Arschkaltmiete

Der Stadtsoziologe Andrej Holm gibt in seinem Buch Objekt der Rendite einen Überblick über die politische Ökonomie der Wohnungsfrage. Von Philipp Möller

Solange die kapitalistische Produktionsweise besteht, solange ist es Torheit, die Wohnungsfrage oder irgendeine andre das Geschick der Arbeiter betreffende gesellschaftliche Frage einzeln lösen zu wollen. Die Lösung liegt aber in der Abschaffung der kapitalistischen Produktionsweise, in der Aneignung aller Lebens- und Arbeitsmittel durch die Arbeiterklasse selbst.« Mit diesem Grundsatz verwarf Friedrich Engels 1872 in seiner Artikelserie »Zur Wohnungsfrage« alle Hoffnungen auf eine Beseitigung der Probleme der Wohnungsversorgung innerhalb der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse. Engels’ Diktum hat nichts an Aktualität verloren, schließlich konnte die Wohnungsfrage nie für die gesamte Gesellschaft und am allerwenigsten für die unteren Klassen gelöst werden. Die Wohnungsfrage hat derzeit als »soziale Frage des 21. Jahrhunderts« erneut Konjunktur, ein eigenständiges Bundesbauministerium wurde geschaffen, und in Berlin votierte kürzlich eine Mehrheit für die Vergesellschaftung privater Wohnungskonzerne.

In seinem neuen Buch Objekt der Rendite bespricht der Stadtsoziologe Andrej Holm ausführlich Engels’ Artikel zur Wohnungsfrage und seine Studie zur Lage der arbeitenden Klasse in England von 1845. Angereichert mit zahlreichen Fakten und biografischen Anekdoten, ordnet er die Schriften in den historischen Kontext der kapitalistischen Industrialisierung ein. In den 150 Jahren seit der Veröffentlichung hat es einige erhebliche Verschiebungen in der politisch-ökonomischen Tektonik des Wohnungswesens gegeben, wozu allen voran die Herausbildung eines leistungsfähigen Sozialstaates zählt, der die Wohnungsversorgung wesentlich beeinflusst und die Wohnsituation der Arbeiterklasse auf Druck des organisierten Proletariats zumindest zeitweilig verbesserte.

Dennoch macht Holm deutlich, dass Engels’ Analyse des Warencharakters von Wohnraum heute ebenso zutreffend ist wie die Darstellung der ökonomischen Prinzipien der Ertragsoptimierung und der Besonderheiten des Geschäfts mit Immobilien als zinstragendem Kapital. Weniger einverstanden zeigt sich der Stadtsoziologe dagegen mit den Überlegungen zur gesamtgesellschaftlichen Bedeutung der Wohnungsfrage, die Marx und Engels als Nebenwiderspruch und als wenig bedeutsam für die Organisierung des Proletariats erachteten. Mieter und Eigentümer träten sich demnach in einem »ganz gewöhnlichen Warengeschäft zwischen zwei Bürgern« gegenüber. Holm verweist dagegen auf die »fundamentalen Interessensgegensätze« zwischen Mieter und Vermieter, die aus den »Eigentumsrechten an Grundstücken und Häusern« resultieren, welche die Eigentümer »zur Abschöpfung der Grundrenten berechtigten«. Das Wohneigentum produziert Machtungleichgewichte, und die Mietzahlung reproduziert soziale Ungleichheit, »weil höhere Mietzahlungen das Vermögen der einen wachsen lassen, während sie die verfügbaren Einkommen der anderen schmälern«.

Die wiederkehrenden und sich jeweils historisch-spezifisch stellenden Wohnungsfragen sind zu einem wichtigen Mobilisierungsfaktor sozialer Bewegungen geworden. Die Berliner Mietenbewegung ist ein Hoffnungsschimmer für die gesellschaftliche Linke innerhalb der recht trostlosen deutschen Zustände. Dabei stärkt es die Mobilisierung, dass die Wohnungsfrage breite Bevölkerungsschichten und nicht allein die Arbeiterklasse betrifft. »Marx und Engels wären heutzutage unbequeme Bündnispartner in sozialen Bewegungen«, merkt Holm an.

Ausgehend von Engels, stellt Holm im weiteren Verlauf seines Buches den Stand der Debatten rund um die politische Ökonomie der Wohnungsfrage umfassend dar. In Anlehnung an die Sozialwissenschaftler Sebastian Schipper und Lisa Vollmer stellt er die Besonderheit einer politökonomischen Perspektive als »ganzheitliche Betrachtungsweise« der »geschichtlichen Gewordenheit des jeweils bestehenden gesellschaftlichen Regimes der Wohnungsraumversorgung« heraus. Dabei erläutert er die Einbindung des Immobiliengeschäfts in die Kapitalkreisläufe der Bauwirtschaft, des Grundstücksmarktes und des Finanzsektors. In erfrischender Weise wendet er sich gegen die Ideologie vom Wohnungsmarkt als sinnvollem Mechanismus der Wohnraumversorgung, »der in vielen wohnungspolitischen Diskussionen als feststehende Tatsache und scheinbar natürliche Rahmenbedingung von Wohnverhältnissen und Stadtentwicklungsdynamiken angesehen wird«.

Um das System der marktförmigen Wohnraumversorgung abzuschaffen, schlägt Holm eine transformative Wohnungspolitik vor. Damit soll die Wohnungsversorgung in einem Dreischritt von den Marktverhältnissen gelöst, die entfremdeten Wohnverhältnisse überwunden und das Wohnen demokratisiert werden. Wohnraum sollte demnach ohne Gewinnerzielung bewirtschaftet werden. Die Wohnbedingungen wären sich bewusst anzueignen und die gebauten Strukturen entsprechend den Bedürfnissen ihrer Bewohner/innen zu gestalten. Die Nutzer/innen des Wohnraums sollten durch kollektive Kontroll- und Mitbestimmungsmöglichkeiten bei der Gestaltung miteinbezogen werden. Dabei macht sich Holm keine Illusionen darüber, dass der Warencharakter von Immobilien erst dann vollständig aufgehoben werden kann, wenn die von Engels eingeforderte »Aneignung aller Lebens- und Arbeitsmittel« vollzogen ist. Eine transformative Wohnungspolitik steht in stetigem Widerspruch zu kapitalistischen Wachstumszwängen und zur Wettbewerbsorientierung. Ihr Adressat ist der Staat, der die Rahmenbedingungen für eine soziale Wohnungspolitik gestalten und gegen private Gewinninteressen durchsetzen müsste, dessen transformative Spielräume als ideeller Gesamtkapitalist allerdings begrenzt sind.

Trotz dieser Beschränkungen verdeutlicht Holm anhand historischer Beispiele, wie durch Genossenschaften, Wohnungsgemeinnützigkeit und kommunalen Wohnungsbau – etwa in Österreich, Großbritannien oder Schweden – eine »partielle Dekommodifizierung« der Wohnraumversorgung gelingen kann. Letztlich ist das Buch ein Plädoyer dafür, das Wohnen zu einem Bereich der sozialen Infrastruktur umzugestalten und sich auf dem Weg dahin weder von der eigenen Ohnmacht noch von vermeintlichen Scheinlösungen dumm machen zu lassen.

Andrej Holm: Objekt der Rendite. Zur Wohnungsfrage und was Engels noch nicht wissen konnte. Dietz-Verlag, Berlin 2021, 216 Seiten, 16 Euro

Philipp Möller schrieb in konkret 6/21 über das Aus für den sogenannten Mietendeckel in Berlin