Das Böse der Banalität

Scheitern als Chance: Der Großroman Witz erkundet Möglichkeiten des literarischen Erzählens nach Auschwitz. Von Jonas Engelmann

Als 2006 Thomas Harlans literarisches Hauptwerk erschien, der Roman Heldenfriedhof, warnte die Presseabteilung des Verlags die Rezensenten in einem Begleitbrief: »Dieses Buch macht Arbeit. Falls Sie nicht die Zeit und Muße haben, diese Arbeit zu leisten, schreiben Sie lieber gar keine Kritik.« Die Warnung wurde gehört: Der Roman des Sohns des Nazi-Regisseurs Veit Harlan wurde kaum wahrgenommen. Das Großwerk Heldenfriedhof bildet Thomas Harlans Ringen um Worte angesichts der Shoah ab, das oftmals in ein Stammeln übergeht. Mit seitenlangen Aufzählungen versucht er sich an einer literarischen Reflexion des industrialisierten Massenmords und legt Kontinuitäten wie die Integration der Mörder in die Strukturen der BRD offen.

Der nun mit zehnjähriger Verzögerung auf Deutsch publizierte Roman Witz des US-amerikanischen Schriftstellers Joshua Cohen erscheint wie der Versuch einer Steigerung des Ansatzes von Harlan, der darin bestand, die Leser damit zu konfrontieren, dass ein Thema wie die Shoah sich nicht als Nebenbeilektüre eignet, niemals der Unterhaltung dienen soll und nach einer Sprache verlangt, die zu durchdringen auch ein Scheitern zur Folge haben kann. Während sich Harlan an der Täterseite abgearbeitet hat, ist Cohens Witz ein Buch über die jüdische Perspektive, das vor allem eine zentrale Frage stellt: Was passiert, wenn der letzte Überlebende stirbt, wenn Auschwitz nur noch als Vermitteltes weitergetragen werden kann? Ist eine Transformation der erlebten Erfahrung in Literatur, die Repräsentation durch Kunst möglich? Oder macht man sich so mit der Kulturindustrie gemein, wie es Cohen Autoren wie Jonathan Safran Foer oder Michael Chabon vorgeworfen hat? Deren Bücher seien versöhnlich, meint Cohen, und ihre Ironie wirke kathartisch; Witz dagegen verweigert trotz des durchaus vorhandenen Humors den Lesern jegliche Pointe. Ulrich Blumenbach, der fünf Jahre an der Übersetzung des 900-Seiten-Romans gearbeitet hat, sagte in einem Interview: »Cohen lässt die Sprache bewusst immer wieder an der herkömmlichen Aufgabe des Erzählens, die darzustellende Welt anschaulich vor Augen zu führen, scheitern. Die Unbegreifbarkeit des Holocaust wird als Unlesbarkeit der Welt literarisches Programm.«

Witz ist ein Buch, das Zeit und Konzentration braucht, für das Sekundärquellen und das Glossar des Übersetzers herangezogen werden müssen – mehr als 25 Seiten sind am Stück kaum zu bewältigen, und für diese benötigt man mindestens zwei Stunden. Im Rahmen der geltenden Verwertungslogik, die auch für Buchnovitäten gilt, zu denen innerhalb kurzer Zeit Rezensionen erscheinen sollen, ist dies nicht zu schaffen. Und so ist diese Rezension zwangsläufig das Dokument eines Scheiterns, das vom Autor des Romans mutmaßlich einkalkuliert wurde, auch wenn der Verlag in diesem Fall das Buch nicht mit Warnhinweisen versehen hat. Denn zum literarischen Programm der »Unlesbarkeit der Welt« gehört auch, dass sich die Form von Witz der schnellen Verwertung widersetzt. So kann dieser Text nicht mehr leisten, als einen Prozess der Auseinandersetzung abzubilden, der noch nicht abgeschlossen ist.

Witz beginnt mit einer etwa hundertseitigen Beschreibung der Vorbereitung des Shabbes-Abends vom 25. Dezember 1999 bei Familie Israelien, in dessen Verlauf dem Ehepaar Hanna und Israel Israelien nach zwölf Töchtern endlich der langersehnte Sohn geboren wird: Benjamin Israelien, »geboren am Shabbat in voller Größe, auch mit voll ausgebildeter Intelligenz, was nicht viel heißen will, gänzlich ausgereift geboren, mit Brille und behaart«. Diesem Kind im Körper eines Erwachsenen steht das Schicksal bevor, der letzte Jude zu sein, denn genau an jenem Weihnachtstag des Jahres 1999 sterben bis auf die Erstgeborenen alle Juden, und die Verbliebenen, die daraufhin – vorgeblich zu ihrer eigenen Sicherheit – auf Ellis Island interniert werden, erleben das nächste Pessachfest nicht.

Benjamin Israelien wird zu einem Messias wider Willen, denn ohne real existierende Juden – ohne dass das Wort »Jude« im Roman auch nur ein Mal genannt würde – wird das Judentum plötzlich hip und Benjamin in jeglicher Hinsicht vermarktet. Seine immer wieder nachwachsende Vorhaut wird zu einem Medienereignis, der Präsident versucht, seine Tochter mit ihm zu verheiraten, und selbst im Weltall wird dem neuen Messias in Gestalt von Dr. Froid, einem Außerirdischen mit vier Penissen, Interesse entgegengebracht. Alle Welt konvertiert zum Judentum, und wer sich verweigert, kommt ins Lager Wasimmerwitz – einen ehemaligen Vergnügungspark – im europäischen Polenland. Doch auch Benjamin selbst gerät schließlich in den Blick der neuen Religionsgemeinschaft, da er als letzter Jude allen anderen die mangelnde Authentizität ihrer eigenen Religionszugehörigkeit vorführt; er wird verfolgt und landet schließlich ebenfalls in Europa.

Was so zusammengefasst tatsächlich wie ein schlechter Witz klingen mag, ergibt in der sprachlichen Gestaltung Sinn, sofern man akzeptiert, dass dieser Sinn vor allem darin besteht, Fragen zu stellen, die vom Autor stets verneint werden, da ein Ja wiederum die Vermarktung des Grauens bedeuten würde. Ohne reale Juden können das Judentum und die Erinnerung an sein Verschwinden als positive Aspekte in die eigene Lebenswelt der meisten Menschen integriert werden.

Witz kann als Angebot verstanden werden, dem Autor zu folgen auf seiner Suche nach den Möglichkeiten des literarischen Erzählens nach Auschwitz, die kein Ziel hat, keine Erlösung verspricht, keine Pointe bietet und keine Möglichkeit, Luft zu holen. »Sie können es auch das Böse der Banalität nennen, das Prozedere, nach dem wir die Leben der nicht mehr Lebenden verkitschen«, heißt es im Buch. Gegen diese Verkitschung arbeitet der Roman mit jedem Satz – von denen viele tatsächlich Wort- und Sprachwitz in sich tragen, allerdings in Form eines Humors, der keinen Spaß versteht. Das Buch endet mit der sich über mehrere Seiten ziehenden Suche von Pointen nach ihren Witzen, und wer es bis hierher geschafft hat, hat viel gelernt über jüdischen Humor, den Umgang der Kulturindustrie mit der Shoah und die Bedeutung des Erinnerns.

Joshua Cohen: Witz. Deutsch von Ulrich Blumenbach. Schöffling, Frankfurt 2022, 912 Seiten, 38 Euro

Jonas Engelmann schrieb in konkret 5/22 über die Frankfurter Ausstellung »Rache. Geschichte und Fantasie«