Sieben Kilo Reiterhose

Jasper Nicolaisen musste das neue Rammstein-Album hören

Rammstein, Rammstein. Eigentlich ist zu Rammstein alles von allen gesagt worden.

Erst einmal reinhören in die neue Platte. Pech gehabt, Herr Rezensent: Platte klingt genau wie jede andere Rammstein-Platte. Weiß jeder, kennt jeder, hat jeder eine Meinung dazu, schon seit dem ersten Hit. Muss das noch mal jemand zusammenfassen? Und muss das ausgerechnet ich sein? Es hilft ja nichts.

Oder doch? Kann ich nicht irgendeinen Rezensionstrick anwenden? So tun, als wäre ich von einem anderen Planeten und hätte noch nie etwas von Rammstein gehört? Als wäre ich per Zeitmaschine ins Jahr ... kurz mal googeln … 1995 gereist und könnte die Welt auf das vorbereiten, was da kommt? Herzeleid, David Lynch, Amerika, Herz schlägt links, Pornovideos, ein ernsthaft lustiges Buch vom »Tastenficker« der Band?

Oder: Nazis. Glaubt noch jemand, dass Rammstein Nazis sind? Finger hoch, bitte, hier bei konkret wird doch … na gut, zwei Leute immerhin. Wie bitte? Ironische Nazis? Nee, das zählt nicht.

Ironie. Wer glaubt, dass Rammstein alles ironisch meinen und in Wirklichkeit viel schlauer sind, als man meint? Hm, hm, drei, vier ... fünf, sechs ... sieben. Was? Ironisch, aber ironisch-ironisch? Was soll das denn bitte schön heißen? Bist du dir sicher, dass du bei konkret richtig bist und nicht bei Böhmermann? Und da ... bitte, die Dame in der letzten ... schon ironisch, aber trotzdem nicht schlauer, als man meint? Haha, danke.

Also, Ironie, da könnte man … ach, eine Wortmeldung! Bitte. Ich muss ja hier nicht alles allein … der gutaussehende Herr in der ersten Reihe mit den müden Augen hinter der erstaunlich geschmackvollen Brille. Wie heißen Sie übrigens? Haben Sie nach der Rezension noch Zeit für … ach, das bin ja ich selbst. Schade. Wollte offenbar kein anderer zu Wort kommen hier in meinem Text. Dann bitte, Herr äh, dings.

»Ja, danke. Hrrrm. Hrrrm. Ist das an? Kann man mich …? Es ist mehr eine Anmerkung als eine Frage. Also, Rammstein lassen sich am besten mit einer Kirmes vergleichen. Alles lebt absolut von der Oberfläche und der Inszenierung. Deshalb ist es auch witzlos, eine Rammstein-Platte streng nach dem musikalischen Material zu befragen. Die Musik besteht allein aus dem Sound, der althergebrachten Formel und ihrer sehr aufwendig produzierten Stumpfheit. Abzüglich dessen bleibt nur Schlager und Hitparade. Aber um die Oberfläche geht es halt. Und das machen Rammstein natürlich absolut wirksam und profimäßig. Im übrigen auch kein Verbrechen für Popmusik, die ja bekanntlich aus der Oberfläche und dem Spiel mit den Zeichen ihren Nektar saugt. Das Spiel reicht dabei schon, es muss keine echte Haltung irgendwo dahinter sein. Kann, muss aber nicht. Rammstein wollen schon provozieren, aber sie sind keine Moralisten, sondern ihre Geste bleibt bei der bloßen Provokation stehen. Wir grunzen, was man vermeintlich oder tatsächlich nicht grunzen darf, das ist doch schon an sich politisch, aber wenn man uns fragt, ist es natürlich, haha, nicht politisch. Das war früher, in den Neunzigern, noch dichter am Zeitgeist. Heute, wo derartige Positionen längst ganze Staaten ins Wanken bringen, Kriege befeuern und nicht zuletzt in Deutschland auch rechte Spaziergänger und ähnliches groß machen, wirkt dieser feixende Nicht-Standpunkt noch ein bisschen matter, beziehungsweise man erkennt einfach noch besser, wie sehr das mit der gesellschaftlichen Mitte konform geht, die es am Ende wieder nicht gewesen sein will. Alles einsteigen, bitte, überall explodiert was, es glitzert und funkelt, hui, jetzt geht es kopfüber, alles sieht kurz anders aus, bisschen angesext, bisschen gewaltvoll, bisschen zu viel, aber dann stehen wir auch schon wieder auf dem Boden der Tatsachen. Auch das muss man Pop nicht vorwerfen: Dass er nicht direkt politisch wirkt, hat ihn nie von irgendwas abgehalten. Aber bei Rammstein steht die Welt kurz schwindelnd kopf, und was sehen wir alle zusammen im Riesenrad? Die Blödis, die sich nicht trauen, und was wir denen gerne antun würden, wenn wir nicht gleich wieder die gewohnte Position einnehmen würden. Die Einladung ist nicht, kurz Außenseiter zu werden, sondern kurz auf alles scheißen zu dürfen. Manchmal funktioniert auch was, da schmeckt die Zuckerwatte wirklich, da bleiben wir oben auf dem Riesenrad stehen, und es ist kurz schöner als im Alltag, oder wir müssen ehrlich lachen. Aber dann kommt gleich der Absturz, und es hat doch jemand auf den Boden gekotzt, und hinter der Schießbude sagt schon wieder jemand mit zitternder Stimme ›nein‹, also, es bleibt nicht schön.«

Ja, das war ja … danke. Besser hätte ich es auch nicht … und Sie haben wirklich keine Zeit, nachher noch … so kluge und hübsche Männer wie Sie findet man ja selten.

»Bitte mach es nicht selbstbezüglicher als ohnehin schon. Es ergibt nur Sinn, weil es hier um Rammstein und ihre eigene Referenzhölle geht.«

Da gibt’s kein Entkommen, oder?

»Nee.«

Und so rein inhaltlich? Die neue Platte?

»(Seufz.) Es fängt leise an, gerne mit einem Klavierintro. Dann einmal laut, dann leiser, dann stark gereimter Vortrag, dann wieder laut, auch mit Chören, dann wieder leiser, dann laut, aber auch mit Streicherfett und /oder synthetischen Sounds. Dann Pause, Streichergewaber, dann noch mal ganz laut und Schluss.

Textlich … ach, ich zitiere mal: ›Gründe auf verblühten Rosen / die Partei der Hoffnungslosen / Wenn unsere Zeit gekommen ist, dann ist es Zeit zu gehen / Aufhör’n, wenn’s am schönsten ist / Die Uhren bleiben stehen / Es ist die totenschwangere Nacht / Die uns verzückt zu Sündern macht / Alle Nächte muss ich bangen / Nichts hält mich wie du gefangen / Messer, Tupfer, Vollnarkose / Sieben Kilo Reiterhose / Ohne Kondom, ohne Kondom / Der Klügere gibt nach / Ach, sie können es nicht lassen / Schreien ›Feuer‹ in die Gassen / Sie muss nur Riesentitten haben / Und wer es glaubt, ist selber schuld.‹«

Klingt wie Tocotronic.

»Da würde ich mal drüber nachdenken.«

Zusammen? Bei einem Kaffee?

»Nein.«

Rammstein: »Zeit« (Universal)

Jasper Nicolaisen schrieb in konkret 12/21 über den schwulen Rapper Kay Shanghai