VON konkret

Die russische Zeitung »Nowaja Gaseta« hatte bekanntgegeben, bis zum Ende des Ukraine-Kriegs ihr Erscheinen auszusetzen. Anlässlich des 77. Jahrestags des Siegs der Roten Armee über Deutschland druckte daher die »Taz« als »Zeichen der Solidarität« Texte der »wichtigsten unabhängigen Zeitung in Russland« (»Tagesschau«) ab, unter ihnen einen der Schriftstellerin und »Gaseta«-Mitarbeiterin Julia Latynina. Ein Blick in ihren Wikipedia-Eintrag hätte genügt, um zu erfahren, dass es sich bei ihr um eine rechtsradikale Autorin handelt. Ihr Text, ein Dokument aggressiver Geschichtsfälschung, bestätigt diese Einschätzung. Vielleicht hat die Redaktion das Stück ungelesen veröffentlicht. Wahrscheinlicher ist, dass sie falsch eingeschätzt hat, was im Zuge der geschichtsrevisionistischen Propagandawelle, die seit drei Monaten durchs Land rollt, sagbar geworden ist. Wenn »Spiegel Online« ein Interview mit der Pussy-Riot-Aktivistin Marija Aljochina mit dem Zitat »Der Buchstabe ›Z‹ ist das neue Hakenkreuz« übertiteln kann, Putin-Hitler-Vergleiche ebenso zum guten Ton von Bürgerpresse und Politik gehören wie die Verwendung der Begriffe »Zivilisationsbruch«, »Vernichtungskrieg« und »Völkermord« für den Ukraine-Krieg – warum sollte die Behauptung, Stalin habe den Zweiten Weltkrieg geplant, »lange bevor Hitler an die Macht kam« (siehe dazu Kay Sokolowskys Stück auf S. 12), irgend jemanden stören? Wo Latynina doch Trägerin des Gerd-Bucerius-Förderpreises Freie Presse Osteuropas ist.

Manchmal ist die Form das Problem. Das zeigt die Entgegnung, mit der die »Taz« am folgenden Tag Latyninas Geschichtserzählung pro forma zurückwies. Die sei weder »unbequem« noch »bedenkenswert«. Aber:

Wir müssen selbstkritisch erkennen, dass etwas versäumt wurde. Erinnerungspolitisch ist Europa in West und Ost gespalten. … Im Westen gilt der Holocaust als geschichtspolitischer Maßstab, in Osteuropa haben manche Länder eine enge nationale Opfererzählung entwickelt, in der Stalin und die Sowjetunion die Hauptfeinde sind. Es ist seit 1990 nicht gelungen, diese Diskurse in produktive Spannung zu versetzen. Vielmehr herrscht verbissene Opferkonkurrenz.

Wo er Affirmation als Selbstkritik, Einspruch oder anstrengendes Umdenken verkaufen kann, ist der »Taz«-Autor in seinem Element. Hier fordert er ein geschichtspolitisches Umdenken, das lediglich auf die Fortführung jener Geschichtspolitik aus ist, die der Westen noch während des Zweiten Weltkriegs unter dem Etikett Totalitarismustheorie etablierte. Seither wurden so lange »Diskurse« »in Spannung« gesetzt, bis ein neues Synonym für Massenmord produziert war: Kommunismus.

Die deutsche Erinnerungskultur ist auf manchmal selbstbezügliche Art auf den Holocaust zentriert. Schon Fragen nach dem Vergleich von Nationalsozialismus und Stalinismus reflexhaft als Relativierungsversuche zurückzuweisen ist eine unproduktive Haltung.

Deutsche Selbstkritik: endlich einen Schlussstrich unter das »selbstbezügliche« Erinnern der deutschen Verbrechen gegen die Menschheit ziehen, zu dem erst die Alliierten, später die deutsche Exportwirtschaft die ahnungslosen NSDAP- und SS-Mitglieder und ihre Nachkommen verdonnert haben. Nur wer die »Diskurse« »in Spannung« setzt beziehungsweise »Fragen nach dem Vergleich von Nationalsozialismus und Stalinismus« willkommen heißt, ist »produktiv« und schafft einen »Weg ins Offene«, dorthin also, wo alles eins ist beziehungsweise Putin nicht nur Stalin, sondern auch Hitler, womit die Deutschen gleich auch noch die Kriegsschuld los wären.

Dieses dialogische Erinnern ist anstrengend, aber die einzige Möglichkeit, abgekapselte Erinnerungskulturen durchzulüften.

Womit der Autor die Kabine direkt neben Latynina bezieht. In dieser faschistisch-liberalen Nachbarschaft werden etwaige Unterschiede zwischen Hitler, Stalin und Putin so lange dialogisch durchgelüftet, bis sie sich auflösen. Schatz, schmeiß die »Taz« aus dem Fenster, sie riecht.

 

Laut einer Statistik der US-amerikanischen Gesundheitsbehörde CDC hat die Zahl der Drogentoten in den USA 2021 mit 107.622 einen neuen Höchststand erreicht; sie liegt 15 Prozent über den Zahlen des Vorjahrs. Hauptursache der amerikanischen Drogenepidemie ist die in den neunziger Jahren begonnene aggressive Vermarktung opiumhaltiger Schmerzmedikamente. Verantwortlich für die Epidemie sind nicht nur Pharmaindustrie, Mediziner und Apotheker, sondern auch die US-Behörde für Lebens- und Arzneimittel, FDA, die diese Medikamente für die Langzeitanwendung zugelassen und die Zulassung neuer Opioide noch einfacher gemacht hat. Und, so Johannes Simon in konkret 1/18, eine Gesellschaftsordnung, in der »es fast vernünftig erscheint, jeden Tag Drogen zu nehmen«.l