Der falsche Jude

Florian Sendtner über die Münchner Inszenierung von Wajdi Mouawads Theaterstück »Vögel«

Romeo und Julia heute. Romeo ist ein Berliner Jude, Julia eine amerikanische Marokkanerin. Sie stößt bei seiner Familie auf kategorische Ablehnung. Naturrecht der Liebe versus jüdische Borniertheit. Das Theaterstück »Vögel« von Wajdi Mouawad, das vom Münchner Metropoltheater aufgrund des Protests jüdischer Studentenverbände »in vorauseilendem Gehorsam« (»FAZ«) vorläufig abgesetzt wurde, wartet zu guter Letzt mit der Pointe auf, dass sich Romeos Vater, ein fanatischer jüdischer Araberhasser namens David, als biologischer Palästinenser entpuppt. 1967, im Sechstagekrieg, fand ein israelischer Soldat in einem Palästinenserdorf, dessen Bewohner vor der israelischen Armee geflüchtet waren, in einem Schuhkarton ein zurückgelassenes Baby, das er mitnahm und im Kriegschaos als sein eigenes ausgab. Die herzzerreißende Legende wird dadurch gekrönt, dass dieser falsche David, unmittelbar bevor er »enttarnt« wird, eine glühende Hass- und Hetzrede gegen die Palästinenser hält (»armselige Meute«, »dieses Geschwür«).

Vollends unwiderstehlich für den distinguiert-antisemitischen Theatergänger wird das 2017 in Paris uraufgeführte Stück des libanesisch-französisch-kanadischen Autors durch den Anklang an Lessing. Stellt sich nicht auch in Nathan der Weise heraus, dass Nathans Tochter Recha gar nicht seine Tochter und vor allem gar keine Jüdin ist? Und durchfährt einen nicht auch bei Lessing die Erkenntnis, dass es höchste Zeit ist, der verfolgten Minderheit endlich Gerechtigkeit widerfahren zu lassen? Dass es sich dabei 240 Jahre danach nicht mehr um die Juden, sondern um die Palästinenser handelt, versteht sich von selbst. Denn Shoah hin oder her, konstatiert niemand anders als der jüdische Romeo selbst, »unser Volk«, sprich: das jüdische, lasse »heute ein anderes die Unterdrückung erleiden, die es selbst erlitten hat«.

Rufe nach einer Korrektur von Text und Inszenierung wurden von Münchner SPD-Stadträten, Grünen-Politikern und weiteren Koryphäen entschieden als Versuch einer »Zensur« zurückgewiesen. Stimmt schon irgendwie. Man stelle sich vor, Heinrich von Treitschkes Aufsatz »Unsere Aussichten« wäre 1879 entschärft erschienen. Treitschkes Quintessenz »Die Juden sind unser Unglück« wäre womöglich verwässert worden.