Wurzelrechnung

Florian Sendtner über die eigenwillige Antisemitismus-Definition der Braunschweiger Staatsanwälte

Wir werden von den Juden regiert!« schrie ein Zuhörer beim Politischen Aschermittwoch der AfD im niederbayerischen Osterhofen, aufgeputscht von den Hetzreden am Rednerpult, in den Saal. Jetzt ermittelt die Deggendorfer Staatsanwaltschaft wegen des Verdachts der Volksverhetzung, allerdings unter Vorbehalt. Ob die Aussage strafbar sei, so ihr Sprecher, könne noch nicht gesagt werden, es komme auf den »Kontext« an. Die Deggendorfer Staatsanwaltschaft kann sich offenbar einen Kontext vorstellen, in dem die mehr als hundert Jahre alte Lüge von der »Judenrepublik« keine Volksverhetzung ist.

Abgeschlossen sind dagegen Ermittlungen der Braunschweiger Staatsanwaltschaft. Sie hat das Verfahren gegen den Neonazi Martin Kiese eingestellt. Er hatte am Volkstrauertag 2020, den seine Partei Die Rechte als »Heldengedenktag« beging, Gegendemonstranten als »Judenpresse, Judenpack« beschimpft und hinzugefügt: »Feuer und Benzin für euch!«

Die Strafverfolger nahmen die Drohung gelassen, schließlich richtete sie sich nicht gegen sie, und stellten die Ermittlungen umgehend ein. Ein Ehepaar aus Laatzen – die Großeltern und weitere Verwandte der Frau wurden in Auschwitz ermordet – legte dagegen Beschwerde ein. Die Generalstaatsanwaltschaft ordnete daraufhin die Wiederaufnahme des Verfahrens an. Ein ganzes Jahr lang »ermittelten« die Braunschweiger Staatsanwälte erneut – um wiederum zu dem Ergebnis zu kommen: Da war nichts. »Auch wenn die antisemitische Gesinnung des Beschuldigten hier amtsbekannt ist«, so die Begründung, »waren die konkreten Äußerungen doch eindeutig gegen die Pressevertreter gerichtet, bei denen es sich nicht um Juden gehandelt haben dürfte.«

Es ist sehr großzügig und auch sehr aufgeklärt von der Staatsanwaltschaft, dass sie die Medien nicht mit den Juden in eins setzt. Und es ist sicher Zufall, dass ihr diese Differenzierung just dann einfällt, wenn man sie dafür gebrauchen kann, die Ermittlungen gegen einen lauthals krakeelenden Antisemiten einzustellen.

Die Nazis schreien: »Judenpresse!« Die Staatsanwälte sagen, es sei kein Antisemitismus, Nichtjuden als Juden zu beschimpfen. Wenn man die Nazis und die Juristen addiert und die Wurzel aus der Summe zieht, bleibt unterm Strich Hermann Göring: »Wer Jude ist, bestimme ich!«