Weil wir einverstanden sind

Die deutsche Filmbranche hat einen New Deal. Von Lars Henrik Gass

Der einzige Wert, den dieses System kennt, ist Geld. Rund 600 Millionen Euro insgesamt stehen dem Vernehmen nach jährlich in Deutschland zur Förderung von Filmen zur Verfügung. Und ständig kommt mehr dazu. Das ist viel, aber viel weniger als heutzutage für einen schönen Kulturbau fällig wird. Der Bund hat einen Teil davon gesetzlich im Rahmen des Filmförderungsgesetzes (FFG) geregelt. Zur Verwaltung sind über 100 Leute der Filmförderungsanstalt (FFA) nötig. Bislang wird das Konstrukt durch ein Umlageverfahren finanziert, durch Abgaben aus der gewerblichen Filmauswertung, also Kinoabspiel. Allerdings sind die Einnahmen daraus seit Jahrzehnten rückläufig. Bereits vor Beginn der Pandemie waren es allein in den Jahren 2000 bis 2015 rund 30 Prozent. Eine neue Studie unter Beteiligung der Robert-Bosch-Stiftung prognostiziert einen Rückgang der Kinos in den Städten um über 40 Prozent bis zum Jahr 2030. Das Ganze ist also ein Sanierungsfall, weil das Gesetz nicht mehr dauerhaft finanziert werden kann. Wer das schreibt und so öffentlich macht, erhält Post von der Pressestelle der FFA, die natürlich nichts gegen Pressefreiheit hat, solange man schreibt, was sie sagt: Man lege »Wert auf die Feststellung«, dass man »keineswegs ein Sanierungsfall« sei und auch »künftig nicht aus Steuergeldern alimentiert werden« müsse.

Genau das aber wird nun auf den Weg gebracht. Die FFA soll nach Willen und Worten der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM), Claudia Roth, in einem Acht-Punkte-Papier – das nach wiederholtem Aufschub der Gesetzesnovellierung endlich Klarheit bringen sollte, sich tatsächlich aber weiter im Ungefähren bewegt – zu einer »Filmagentur« werden: »effizienter«, »schneller«, »ganzheitlicher«, »verbessert«, »passgenau«, »innovativ«, »modernisiert«, »selbstbewusst« und so endlos sinnlos weiter. Hier sollen alle Fördermaßnahmen des Bundes »gebündelt« werden, also auch die »kulturellen«, alles im Dienst der großen, nationalen Sache, des »Filmstandorts Deutschland«.

Dem FFG stehen zusätzliche Förderinstrumente des Bundes zur Seite, die im Gegensatz zum FFG aus Steuermitteln bestritten werden, aber ebenfalls wirtschaftliche Interessen verfolgen: der Deutsche Filmförderfonds (DFFF) sowie der German Motion Picture Fund (GMPF), weitere rund 175 Millionen Euro. Da auch die Filmförderung der Bundesländer zum überwiegenden Teil nach rein wirtschaftlichen Kriterien vergeben wird, nämlich zur Förderung des eigenen Standorts, entsteht ein erhebliches Missverhältnis zwischen wirtschaftlicher und kultureller Förderung. Die kulturelle Filmförderung der BKM beträgt klägliche 27 Millionen Euro.

»Scheitern auch einmal als Chance« und »bessere Abstimmung zwischen wirtschaftlichen und künstlerischen Aspekten« klingen bei Roth eher wie die Drohung, dem Mittelmaß, das dieses System am laufenden Band produziert, eine nun garantiert risikolose und dauerhaft biedere Zukunft zu bescheren, also die »Planungssicherheit« herzustellen, die Verbände vor der Veröffentlichung der Erklärung bereits alarmistisch eingefordert hatten. Die Alleinstellung einer filmkulturellen Förderung des Bundes, auf die Roths Vorgängerin stolz war, wird ohne erkennbare Not aufgegeben und wäre doch dringlicher denn je.

Einen Begriff davon, welche Art von Film der ganze Effizienzspuk hervorbringen soll und für wen, hat man nicht. Er solle – das »und« im Satz gesperrt – »künstlerisch und wirtschaftlich erfolgreich« sein. Wirtschaftlich, also kostendeckend, ist in diesem Land fast kein Film. Unwidersprochenen Schätzungen zufolge liegt die Kostendeckung schon seit vielen Jahren bei weit unter zehn Prozent. Das Filmgeschäft läuft also großartig allein dank Filmförderung. Im Lichte der internationalen Präsenz auf Filmfestivals und der Filmkritik, die man ihrer Unabhängigkeit wegen argwöhnisch verfolgt, ist die Bilanz auch künstlerisch gesehen dürftig. Das allerdings sind, an der realen Praxis gemessen, sachfremde Maßstäbe, denn der einzige Sinn der Filmförderung besteht darin, die stetig wachsende Zahl an Akteuren, die Ausbildung auf Linie bringt, im Brot zu halten und ständig anwachsende Versorgungsansprüche zufriedenzustellen. Filmförderung ist hierzulande faktisch eine Subvention von »Medienschaffenden«, die nach wirtschaftlichen und künstlerischen Kriterien nirgendwo irgendwie konkurrenzfähig sind und unentwegt von »Filmkunst« und »Kinokultur« schwadronieren müssen, um den ideologischen Kern des Unterfangens zu verschleiern. Mitmachen ist alles. Um gute, bessere, herausragende Filme geht es nicht. Dafür hätte man auch keinen Maßstab. Claudia Roths gegenwärtiges Vorbild ist das schauerliche Netflix-Remake von »Im Westen nichts Neues«. Um solche success stories geht es. Also mehr davon.

Das versteht außerhalb des Systems niemand und soll es auch nicht. Wirtschaftsliberale von FDP bis AfD fordern seit Jahren die Abschaffung der Filmförderung. Im Sinne des Gemeinwohls hingegen wären – vor dem Hintergrund des gewerblichen Niedergangs der Kinoauswertung – die konsequente, gemessen am Status quo radikale Unterscheidung der Zielvorstellungen statt deren gegenwärtiger Vermischung und auch vollkommen unterschiedliche Erfolgskriterien: hier eine bedingte Subvention der Filmwirtschaft durch ein Umlagesystem von Abgaben, dort eine bedingungslose Förderung von künstlerischen Positionen auf Grundlage von Steuermitteln; hier ein reales Risiko auf dem Markt, auf dem sich durchsetzt, was wirklich wirtschaftlich ist, dort eine Investition gegen den Markt, die sich allein an künstlerischen Kriterien messen lassen muss. Eine steuerfinanzierte Filmförderung, die nach der Publikation des Oberhausener Manifests (1962) durchgesetzt wurde, hatte nur so lange Berechtigung, wie sie künstlerischen Positionen die Teilnahme an einem Markt ermöglichte, auf dem diese sonst nicht bestehen könnten. Faktisch ermöglicht sie derzeit Marktteilnehmern, die nicht den geringsten künstlerischen Ansprüchen genügen und damit auch keinen Erfolg haben, das Ruhegeld.

Richtig wäre also die Forderung nach künstlerisch oder wirtschaftlich erfolgreichen Filmen – und hier wäre das »oder« im Satz gesperrt. So ungefähr stellen sich das auch acht Initiativen und Verbände vor, die sich am Spielfeldrand als »Initiative Zukunft Kino+Film« zusammengeschlossen haben, das Geschehen aber mit Zwischenrufen nicht beeinflussen können. Eine Trennung zwischen Subvention und Förderung wird seit Jahrzehnten unter dem Einfluss der Filmwirtschaftslobby politisch verhindert mit dem durchsichtigen Argument, Film sei immer beides, wirtschaftlich und künstlerisch. Nur wird’s weder das eine noch das andere und auch nicht beides zusammen. Kunst taugt allenfalls zum Geschäft: Im Zweifelsfall war’s Kunst, wenn’s nicht Kasse gemacht hat. Die Verluste werden vergesellschaftet. Überdies steht die BKM vor dem beihilferechtlichen Problem, dass der Bund, anders als die Bundesländer, für Kultur nur nachrangig und sehr eingeschränkt zuständig ist. Demnach ist auch sie daran interessiert, dass nicht mehr Kunst als zweckmäßig herauskommt. Das steckt hinter dem Vorhaben der »Filmagentur«. Wozu hierzulande allerdings überhaupt eine »Filmindustrie« und nicht einfach nur eine Förderung des künstlerischen Films benötigt wird (weil Film eben teuer ist), wenn die Leute halt lieber Filme aus Hollywood sehen möchten (und dafür auch zahlen) als deutsche Komödien und alles andere, was das Fernsehen sonst für sendefähig hält, traut man sich kaum noch zu fragen.

Da sich in Deutschland wie anderswo Filme immer weniger wirtschaftlich im Kino behaupten können, müsste das Kino dringend in einem strukturierten Prozess als kulturelle Praxis bewahrt und neu erfunden werden, wie dies historisch gesehen auch für das Theater und andere Künste der Fall war. Dass Kino ein minder trostloser Ort sein könnte, liegt in diesem Land außerhalb kognitiver Reichweite. Derzeit wird mit ein paar Corona-Hilfen der Untergang aufgeschoben und das Kino ungerührt dem Markt zum Fraß überlassen. Die BKM hat ein Gesuch mehrerer Verbände, das Berufsfeld Kino zu sichern, dezidiert an die Bundesländer verwiesen; ein gesamtstaatliches Interesse am Kino liegt nicht vor. Dieses richtet sich überhaupt nicht auf gemeinnützige Anliegen, weder auf eine Bewahrung des Kinos noch auf herausragende Filme, sondern auf eine Fortschreibung der Geschäftsmodelle, die mit Film und Kino unterhalten werden. Die Verbände der Film- und Kinowirtschaft haben mit allen Fraktionen im Bundestag, die keineswegs rühmliche Ausnahme ist die AfD, Verabredungen über deren filmpolitische Positionen getroffen, damit dies sichergestellt ist. Filme werden ja schließlich nicht gefördert, damit sie in die Filmgeschichte eingehen oder etwas in Köpfen bewegen.

Anlässlich der Veröffentlichung des BKM-Papiers am 16. Februar in der »Süddeutschen Zeitung« apportierten die Arbeitsgemeinschaft Dokumentarfilm, die Filmakademie und die Produzentenverbände wie auf Kommando noch am selben Tag, ganz ohne Anstandsfrist, per Pressemeldung aus dem Stehsatz die gemeinschaftliche Kapitulation: »Die deutsche Filmbranche«, in der diese Leute ihre geistige Heimat finden und ungeniert vertreten, »begrüßt die wegweisenden Impulse der Bundesregierung für ein neues Filmfördersystem in Deutschland … Die Filmbranche wird Claudia Roth bei ihrer Initiative unterstützen.« Wer wollte nun noch abseits stehen, da als »wegweisend« schon volksgemeinschaftlich verordnet ist, was – so das Branchenorgan »Blickpunkt Film« – auf »stehende Ovationen und fast frenetischen Applaus« stieß? Nachdenken ist in der Filmbranche generell ein Verdachtsmoment. Die Bande zum eigenen wirtschaftlichen Vorteil hat mit dem Zentrum der Macht längst einen New Deal vereinbart: Die einen dürfen auf die Fortführung ihrer belanglosen Geschäfte hoffen, sofern sie einverstanden sind, die anderen auf nachlassenden Widerstand, sofern sie anstandslos zahlen, auch wenn das Resultat keinen sonderlich interessiert. Teil des New Deal sind die hinsichtlich der Arbeitsbedingungen nachvollziehbaren, hinsichtlich ohnehin schon harmloser Ergebnisse abträglichen zeitgeistigen Arrangements zwischen Branche und Politik zu »Diversität«, »Geschlechtergerechtigkeit«, »Intimitätscoaching«, »Nachhaltigkeit« oder »Sensibilisierungsworkshops«. Alle sollen sich möglichst gut, weil bestätigt fühlen. Mehr Ansprüche hat und braucht man nicht.

Die Mär besagt, allein die Uneinigkeit unter den Akteuren betrüge den deutschen Film um seine verdiente große Zukunft. Raum für freies, kompromissloses Denken und Produzieren, fundierte Kenntnisse der Filmgeschichte und außerordentliche künstlerische Ansprüche, die etwas von Relevanz hervorbringen könnten, gelten als störend. In der Tat jedoch sind die Aporien der Förderregime selbst dafür verantwortlich, dass kein wirtschaftlicher oder künstlerischer Erfolg hervorgebracht wird – sowie Akteure, denen das Talent zum einen wie zum anderen nachweislich fehlt. Dass ihre Hervorbringungen kaum noch Abnehmer finden, kann sie in ihrem offenbar unerschütterlichen Glauben an sich selbst und im »Kampf gegen das Publikum und die Amerikaner« (Wolfgang Pohrt über »deutschstämmige Filmkunst«) nicht beeindrucken.

In keiner der vielen Erklärungen ist von einer Zukunft des Kinos noch die Rede, Claudia Roth inbegriffen – auch wenn sie die Dolchstoßlegende verbreitet, der Kinobesuch sei »als Folge der Pandemie« stark zurückgegangen. Alle wissen, dass es mit Kino vorbei ist. Einig ist man sich jetzt darin, einig sein zu wollen. Das ist beschlossene Sache. Ein paar Verluste nimmt man in Kauf.

Lars Henrik Gass schrieb in konkret 11/19 darüber, warum Hans Joachim Mendig von Hessenfilm gehen musste und es trotzdem weitergeht wie gehabt