Alles, was rechts ist

Teile der russischen Opposition überholen Putins Partei Einiges Russland rechts. Von Ewgeniy Kasakow

Die deutsche Vorstellung davon, was in Russland rechts, nationalistisch und rechtsradikal ist, ist häufig konfus. Das ist verständlich, denn als Wladimir Putin an die Macht kam, firmierte die stärkste marktliberal-monetaristische Partei im Parlament unter dem Namen Union der rechten Kräfte (SPS), während die sozialkonservative Law-and-Order-Partei mit einem sowjetnostalgischen und antiwestlichen Programm sich Kommunistische Partei der Russischen Föderation nannte und sich selbst als »linkspatriotisch« verstand. Putins Einiges Russland sah sich als eine »Kraft der Mitte«, während die Partei, die am häufigsten nationalistische Rhetorik – »Wir sind für die Russen, wir sind für die Armen« – verbreitete, sich Liberaldemokratische Partei Russlands nannte.

Im Westen stellt man sich einen russischen Nationalisten so vor: ein älterer Mann mit langem Bart, der antiwestlich und antisemitisch ist und sich nach der maximalen territorialen Ausdehnung Russlands wie unter dem Zaren oder später Stalin sehnt und der außerdem Marktreformen und die Demokratie verdammt. Tatsächlich differenzierte sich die nationalistische Bewegung im postsowjetischen Russland schnell. Man ist entweder pro- oder antisowjetisch, für Christentum oder Neopaganismus und später für die freie Marktwirtschaft oder einen reaktionär-romantischen Antikapitalismus. Als besonders bedeutsam erwies sich die Spaltung zwischen den Anhängern einer multiethnisch-imperialen Konzeption Russlands, was freilich stets die kulturelle Dominanz der Russen implizierte, und den Anhängern eines ethnisch definierten Nationalstaats. Im Gegensatz zu den imperialen Strömungen, zu denen die Duma-Kommunisten unter Gennadi Sjuganow ebenso zählen wie die kaum an Parteipolitik teilnehmenden, dafür aber medial präsenten Eurasier um Alexander Dugin oder, wenn auch meist in moderaterer Form, die Vertreter von Einiges Russland, wollen ihre Kontrahenten, dass Russland ein Nationalstaat für Russen wird. Für diese Leute gingen alle imperialen Projekte, in die Russland je involviert war, stets auf Kosten der russischen Ethnie. Sie glauben, dass Russland immer wieder von nichtrussischen (baltendeutschen, kaukasischen, jüdischen) Eliten regiert und ausgenutzt wurde und dass die nichtrussischen Peripherien des Zarenreichs und der Sowjetunion Privilegien genossen, die dem russischen Volk vorenthalten wurden. Das Ziel ist, aus Russland einen weißen, ethnisch homogenen, europäischen Staat mit Volksherrschaft und Marktwirtschaft zu machen und sich gegen die asiatischen und kaukasischen Minderheiten abzuschotten. Für einen russischen Sonderweg oder Etatismus haben diese Nationaldemokraten ebensowenig übrig wie für die Idee, Russland sei eine Föderation verschiedener nationaler Republiken. Mehr noch als vor einer »jüdischen Weltverschwörung« fürchtet man sich in diesen Kreisen vor einer »Flut von Migranten«. Organisationen wie die Bewegung gegen die illegale Migration haben das Mobilisierungspotential dieses Wohlstandsrassismus bewiesen. Heute nehmen nationalistische Organisationen wie der Rechte Block und die sich als links und sozialrevolutionär verstehende Assoziation des Volkswiderstandes, eine Abspaltung der Nationalbolschewiki, an den Protesten gegen den Krieg teil.

Der Ukraine-Krieg und vor allem der Marsch der Wagner-Söldner auf die Hauptstadt haben gezeigt, dass die militanten Nationalisten leicht Anschluss an beide Seiten des Konflikts finden. Die nationalistische Opposition im heutigen Russland besteht sowohl aus russischen Ethnonationalisten, die Putin als Erben der verhassten Sowjetzeit ablehnen und Seite an Seite mit den ukrainischen Aktivisten des Rechten Sektors für eine Welt homogener Nationalstaaten kämpfen, als auch aus denjenigen, denen Putins Kriegführung zu halbherzig und seine Politik nicht konsequent genug antiwestlich ist. Der kürzlich gegründete »Club der verärgerten Patrioten« um den monarchistischen »Freiwilligenkommandeur« und ehemaligen Geheimdienstoffizier Igor Girkin warnte eindringlich vor der Eigenwilligkeit der Wagner-Söldner, doch kaum begann Jewgeni Prigoschin seinen »Marsch der Gerechtigkeit«, soll das Clubmitglied Pawel Gubarew, ein ehemaliger Aktivist der Neonazi-Organisation Russische Nationale Einheit und 2014 kurzfristig »Volksgouverneur« von Donezk, verkündet haben, Putin sei erledigt und man solle ihn nicht verteidigen.

Der »Club der verärgerten Patrioten« besteht aus ideologisch motivierten Anhängern des Krieges und aus solchen, die für eine Liquidierung der ukrainischen Staatlichkeit plädieren. Zwischen ihnen und Prigoschin liegt ein tiefer Graben, denn der vermeidet eine abwertende Rhetorik gegen die Ukrainer, die er »würdige Gegner« nennt. Prigoschin spricht öffentlich von Möglichkeiten zu verhandeln und gibt zu verstehen, dass die offiziellen Gründe für die Invasion nur ein Vorwand für die Durchsetzung von staatlichen Interessen sind, die er eben effizienter umsetzt als der staatliche Gewaltapparat. Der ehemalige Kriminelle mit jüdischen Wurzeln erfüllt den Antisemiten Girkin, der für den Ehrenkodex des adligen Offizierskorps der Zarenzeit schwärmt, anscheinend mit Ekel.

Wo sich Prigoschins Wagner-Unternehmen und Girkins Club der verärgerten Patrioten inhaltlich treffen, ist in ihrem Bekenntnis zum kriegsbedingten Ausnahmezustand. Immer wieder verlangen die »Patrioten« eine totale Mobilmachung, eine Militarisierung der Arbeit in der Industrie und mehr Repressionen gegen Verräter und Unruhestifter. Prigoschin spricht sich sogar offen für extralegale Hinrichtungen aus. Videos, die Tötungen mit einem Vorschlaghammer zeigen, sind zum Markenzeichen der Wagner-Group geworden und werden von einer patriotischen Öffentlichkeit durchaus goutiert. Darüber, dass die Durchsetzung der Staatsräson in der Stunde der Gefahr nicht eingeschränkt werden darf, sind sich die verfeindeten Fraktionen der Nationalisten einig.

Beifall bekam Prigoschins Meuterei gegen Putin aber auch von der anderen Seite: Das Russische Freiwilligenkorps (RDK), das seit August 2022 auf der Seite der Ukraine kämpft, wünschte seinem früheren Kriegsgegner viel Erfolg beim Machtergreifen. Das Programm der in die Ukraine ausgewanderten Aktivisten der militanten nationalistischen Szene trägt den Titel »Homo ethnicus« und lobt nicht nur den »antibolschewistischen Widerstand« der Weißgardisten, sondern ruft auch zur »nationalen Solidarität« auf. Als Kombattanten lässt der RDK, der sich immer wieder um Kontakt mit der liberalen Exilopposition bemüht, nur »ethnische Russen« zu.

Im letzten Jahr erschien Ewgeniy Kasakows Studie Spezialoperation und Frieden. Die russische Linke gegen den Krieg im Unrast-Verlag