LK 37

literatur konkret Nr. 37

German Psycho. Depressionen und Gesellschaft

»Wir wollen kein Psycho-Heim in unserem Kiez!« titelte »Bild«, als sich im vergangenen Frühjahr in Berlin Weißensee die Bürgerinitiative »Familienkiez – Angstfrei leben in Weißensee« gegen ein dort geplantes therapeutisches Wohnprojekt für psychisch kranke Straftäter formierte. Auf Informationsveranstaltungen versuchte der leitende Arzt vergeblich, den gutbürgerlichen Mob zu beruhigen, der sogleich »Kinderschänder« und Hannibal Lecters herbeiphantasierte.

 Ähnlicher Widerstand gegen neue psychiatrische Einrichtungen, der die gänzlich anders motivierte linke Antipsychiatriebewegung der sechziger und siebziger Jahre abgelöst zu haben scheint, ist in Deutschland an der Tagesordnung. Die Ressentiments gegen psychische Abweichungen und die Angst vor den eigenen Abgründen gehen so weit, daß gutsituierte Hausbesitzer in einer Kleinstadt im Westerwald sogar eine Wohngruppe mit maximal sieben eßgestörten Mädchen (die oft ebenfalls aus dem gehobenen Mittelstand stammen) am Rande ihres Viertels mit allen Mitteln zu verhindern suchten: Man wolle »keine kotzenden Mädchen im Vorgarten« (zitiert nach »Rhein-Zeitung«). Erst nachdem eine Klage der Anwohner abgewiesen wurde, kann die erste Mädchengruppe nach monatelanger Verzögerung nun wohl im Oktober einziehen. LITERATUR KONKRET setzt sich in diesem Jahr mit Tabus im Zusammenhang mit psychischen Krankheiten auseinander, zieht die Grenze zwischen seriösen Therapieformen und Seelenpfuschern und untersucht das Verhältnis von Depression und neoliberaler Arbeitswelt. Der Modebegriff Burn-out stammt übrigens aus der Atomphysik und beschreibt das Durchbrennen der Brennstäbe in einem Kernreaktor, wenn diese nicht ausreichend gekühlt werden. Das wirft ein Licht darauf, wie mancher sich die »Reparatur« des psychischen Apparats vorstellt: Depressive einfach kaltstellen, dann richten sie kein Unheil an.


Inhalt

  • German Psycho
    literatur konkret über Depression und Gesellschaft

  • »Schneiden Sie sich auch selbst die Haare?«
    Interview mit der Psychotherapeutin und Buchautorin Andrea Jolander über Therapie und Tabu
  • Kränkung in der Krise
    Eine Verteidigung der Psychoanalyse. Von Christine Kirchhoff
  • Ausweglos
    Tjark Kunstreich über Depression und Gesellschaft
  • Gnadenlos erleuchtet
    Der Buch- und Seminarmarkt für esoterische Pseudotherapien boomt. Von Heike Dierbach
  • Optimales Elend
    »Positive Psychologie« und »Selbstoptimierung« produzieren funktionstüchtige Arbeitskraftroboter. Von Kay Sokolowsky
  • Leidensdruck und Doktorhopping
    Wie Ulrich Holbein doch noch seinen Lieblingstherapeuten fand
  • Literatur als Erbauung
    Der Psychiater und Schriftsteller Paulus Hochgatterer verramscht seine Fallstudien. Von Michael Scharang
  • kaputt
    Monolog eines Mannes, der nicht mehr kann. Von Theodor Weißenborn

Rezensionen
- Iris Dankemeyer über Ulrich Buchner: Wenn Irre Irrenärzte werden. Hinter den Kulissen der Psychotherapie und Steve Ayan: Hilfe, wir machen uns verrückt. Der Psychokult
- Magnus Klaue über Mathias Illigen: Ich oder Ich. Die wahre Geschichte eines Mannes, der seinen Vater getötet hat
- Peter Köhler über J. J. Voskuil: Das Büro. Direktor Beerta
- Matthias Becker über Karola Brede: Angestellte – ein unverstandenes Lohnarbeitsverhältnis. Eine empirische Untersuchung
- Sonja Eismann über Anna Kim: Anatomie einer Nacht
- Maike Landwehr über Irvin D. Yalom: Das Spinoza-Problem
- Jens Hoffmann über Gabriele Baring: Die geheimen Ängste der Deutschen
- Thomas Schaefer über William Boyd: Eine große Zeit
- Martin Jürgens über Olli Dittrich (mit Anne Ameri-Siemens): Das wirklich wahre Leben
- Gitta List über Fred Vargas: Die Nacht des Zorns
- Tim Schomacker über Katja B.: Am Ende zählt nur das Leben. Wie seine Depression meine Familie zerstörteund ich die Kraft fand weiterzumachen und Kathrin Weßling: Drüberleben. Depressionen sind doch kein Grund, traurig zu sein
- Peter Kusenberg über Tim Parks: Sex ist verboten
- Katrin Hildebrand über Nina Pauer: Wir haben keine Angst. Gruppentherapie einer Generation und Dies.: LG ;-). Wie wir vor lauter Kommunizieren unser Leben verpassen
- Thomas Schaefer über Rebecca Hunt: Mr. Chartwell
- Marit Hofmann über Evi Simeoni: Schlagmann
- Tim Schomacker über David Halperin: Der Tag, an dem das Ufo vom Himmel fiel
- Sonja Eismann über Anna Augustin: Der Zwerg reinigt den Kittel
- Kendra Briken über Rainald Goetz: Johann Holtrop
- Werner Jung über Arthur Schnitzler: Träume. Das Traumtagebuch 1875-1931
- Peter Köhler über Richard Wiseman: Paranormalität. Warum wie Dinge sehen, die es nicht gibt
- Annika Müller über Gonçalo M. Tavares: Die Versehrten 
- Jens Hoffmann über Steve Sem-Sandberg: Theres
- Gitta List über Wiebke Lorenz: Alles muß versteckt sein
- Christoph Horst über Margot Käßmann: Stille und Weite