Zum 150. Geburtstag von Karl Kraus

Am 28. April jährte sich der Geburtstag von Karl Kraus zum hundertfünfzigsten Mal, und u.a. der "Deutschlandfunk" verlängerte die Tradition, Kraus als "Sprachpuristen" und "Monomanen" zu denunzieren, dessen "Texte von Eitelkeit durchzogen" seien und dessen Sätze "wirken, als würden sie sich beständig im Spiegel anschauen". konkret nimmt dies zum Anlass, Hermann L. Gremlizas Richtigstellung derartiger Polemik, "Karl Kraus und das Bürgerpack" (1977), wieder zu veröffentlichen.

 

Karl Kraus und das Bürgerpack

Am 5. Februar 1977 füllte die »Frankfurter Allgemeine Zeitung« die ganze erste und ein Viertel der zweiten Seite ihrer Samstagsbeilage »Bilder und Zeiten« mit der Beschimpfung eines Schriftstellers, der seit über vierzig Jahren tot ist. Gegen ihn wurde alles Vokabular aufgefahren, zu dem besinnungslose Wut fähig ist: Komödiant -hysterische Akzente - Eitelkeit und Geltungssucht - jüdischer Selbsthaß - sadistisch - blutrünstig - monomanisch - Allüren eines Provinzdiktators - Intellektuellenclown -antisemitisch - kindisch anmutende Borniertheit - Amokläufer - unerträglich eintönig - verstaubt und vergessen - Produkt österreichischer Intrigen. Soviel ist »Bild« und »Welt« zusammen zum lebenden Heinrich Böll nicht eingefallen wie der »FAZ« zum toten Karl Kraus.  
Es unterschätzte aber die »FAZ«, wer sie für fähig hielte, ihre ganze Wut und ihr aufgebessertes Beilagen-Papier auf einen zu verschwenden, der nicht nur tot, sondern tatsächlich »verstaubt und vergessen« ist. Im Gegenteil, die »FAZ« hat entdeckt, daß Karl Kraus in den letzten Jahren immer lebendiger geworden ist: »Indes sollte man nicht etwa meinen, Kraus werde heute nur noch von denjenigen gerühmt, die einst seinen Lesungen beiwohnen und vielleicht sogar gelegentlich an seinem Kaffeehaustisch sitzen durften. In seinem Banne stehen bisweilen auch jüngere Leser und Interpreten. Aber ob alt oder jung - ein Kennzeichen vereint sie alle: der Fanatismus. Daß Karl Kraus sich für unfehlbar hielt, ist belanglos. Daß er heute von manchen seiner Anhänger für unfehlbar oder doch beinahe unfehlbar gehalten wird, ist erschreckend. Sollte sich hinter der zwar numerisch unerheblichen, doch intensiven Kraus-Bewunderung die Sehnsucht nach dem Absoluten verbergen?«  
Aha. Man braucht Karl Kraus nicht zu kennen, um aus diesen Sätzen zu erfahren, was los ist: Die Zahl der Leute, die lesend von Kraus lernen und das Gelernte schreibend weitergeben, scheint qualitativ groß zu sein und »numerisch« zu wachsen. Das macht die Kulissenschieber des bürgerlichen Kulturbetriebs fürchten. Zum Beispiel eine »Sehnsucht nach dem Absoluten«, die das fidele Haus abräumt und einer Relativitäts-Pragmatik, die mit Tätern packelt und mit Opfern fackelt, das gute Gewissen raubt. Oder einen fanatischen Haß auf ein Feuilleton, das mit liberalem, manchmal linksliberalem und gar irgendwie sozialistischem Klunker den Neutronenbomber des Leitartikels drapiert.
 
Was denken sie sich dabei, die Intellektuellenclowns, wenn sie Kraus plötzlich einen Intellektuellenclown nennen, anstatt auf die besser eingeführten Klischees »Konservativer« und » Austrofaschist« zurückzugreifen, die jahrzehntelang erfolgreich benutzt wurden, die jungen Linken an Karl Kraus vorbeizuschrecken? Warum fällt nach Jahrzehnten, in denen ein Wiener Mitarbeiter des Springer-Verlags den alleinverfügungsberechtigten Kraus-Erben mimte, auf einmal kein politisches Wort? Fürchtet man, die Kraus-Leserschaft sei inzwischen so groß, daß der Schwindel auffliegen müßte?
 
Reden wir also von Politik, lassen wir Kraus davon reden: »Ich, der allem Mißverstand zum Trotz weit von jeglicher Möglichkeit steht, es mit einer Partei zu halten, aber nie vor der Gefahr, um nicht für einen Politiker zu gelten, die Partei der Menschlichkeit zu verlassen, behaupte ... doch den einen unverrückbaren Standpunkt, das Bürgertum in allen Gestalten und in seinem ganzen Ausdruck in Presse und Staatsleben mit einem Hasse zu hassen, der ihm durch Generationen anhaften wird.«
 
Warum verschweigt die »bürgerliche Zeitungspest« auf eineinviertel Seiten »FAZ« diesen Haß auf die »Bürgerwelt«, auf den »Heerbann des Kapitalismus« und den »imperialistischen Wahn«?
 
Soll hier der tote Kraus mit »bürgerlicher Totschweigetaktik« wie der lebende vom »bürgerlichen Pressemetier« noch einmal daran gehindert werden, ein Bewußtsein jener »Kompagnie von Profit und Phrase« zu verbreiten, die beispielsweise den Kulturteil der »FAZ« ausmacht?
 
Dann will ich als einer, den die »FAZ« meint, wenn sie von »der Unduldsamkeit und Maßlosigkeit der Kraus-Anhänger« spricht und ihre eigene (Lohnabschlüsse betreffende) maßvolle (Kappier oder südafrikanische Rassisten betreffende) Duldsamkeit rühmt, ein wenig nachhelfen.
 
Als »jene liberalen Blätter« Osterreichs, in deren Erbe die »FAZ« eingetreten ist, mit Hurra in den Ersten Weltkrieg leitartikelten als der liberale Literaturpapst der Weimarer Zeit, Alfred Kerr, Vorbild des hier zitierten »FAZ«-Autors, noch wilhelminische Kriegslyrik fabrizierte, schrieb Karl Kraus, der »Konservative«: »Ich, der keinen Augenblick seit dem 1. August 1914 sich einen anderen Endsieg als die Verwandlung der Erde in einen Dreckhaufen, keine andere Sühne als die Brandmarkung der Rädelsführer dieses größten Verbrechens der historischen Zeitrechnung vorgestellt, keinen Gedanken der Sympathie für ein Vaterland rotgestreifter Mörder und Diebe, gewalttätiger Kretins und entgegenkommender Schufte gehabt und nie, vom konservativsten, patriotischsten Standpunkt aus, einen anderen Wunsch, als daß sich die nüchterne, fibelfreie, demokratische Zivilisation der Welt mit den zur Ausrottung dieser Unzucht, zur Abkürzung dieser Blutschande leider Gottes nötigen Behelfen armiere...«
 
Das war fanatisch, maßlos, unduldsam, absolut. Wie gut, daß die liberale Presse mitten im Weltbrand einen kühlen Kopf behielt und - bei aller Kritik an Ausschreitungen - die Exportchancen nicht vergaß. Ob Weltkrieg oder Vietnam - nie hätte die »FAZ« geschrieben, daß sie »den wildesten Aufzug befreiter Sklaven für ein geordneteres und Gott wohlgefälligeres Schauspiel halte als den reglementierten Auftrieb von Menschenvieh zum Tod für die fremde Idiotie, das fremde Verbrechen.« Nie hätte sie Rosa Luxemburg das »edelste Opfer« genannt, weil auf die Frage »Wessen« die Antwort hätte lauten können: »Des kapitalistischen Auswurfs und seiner intellektuellen Verwandtschaft« (die heute im »FAZ«-eitartikel Rosa in die Schutzhaft des Radikalenerlasses nimmt.)
 
Soweit der konservative Kraus, an dessen Fackel, solange sie fremde Beiträge aufnahm, Wilhelm Liebknecht mitgearbeitet hatte. Später setzte Kraus Hoffnungen auf die österreichischen Sozialisten, wofür ihm allenfalls der Vorwurf gemacht werden könnte, ganz »konservativ« geglaubt zu haben, was sie sagten, bevor sie es durch Taten verrieten und auf die »sozialistische Umwälzung« (Kraus) zugunsten eines Pakts mit dem Bürgerpack verzichteten. Kraus:
 
»Pfründner des Fortschritts, die das Herz verließ,  
da Weltwind in die schlaffen Segel blies, vom Bürgergift berauschte Parvenüs,  
die mit dem Todfeind, mit dem Lebensfeind  
Profit der Freiheit brüderlich vereint,  
die freier einst und reiner war gemeint.«
 
Dennoch: Kraus wußte zu trennen zwischen dem Erhofften und dem Möglichen, glitt nie in moralisierendes Sektierertum ab, blieb mehr Politiker als die von ihm kritisierten. Als 1927 hundert Wiener Arbeiter im Kugelhagel von Polizei und Militär starben, stellte er sich an die Seite der Opfer und ihrer Partei. Und als, nicht zuletzt durch deren Schuld, Österreich nur noch vor der Wahl zwischen dem zwangsweisen Anschluß an Nazi-Deutschland und der Unterstützung des »Austro-Faschisten« Dollfuß stand, der diesen Anschluß bekämpfte, zögerte Kraus nicht, die gegen Dollfuß gerichteten Sabotage-Akte der Sozialisten den Selbstmord zu nennen, der er war. Auch das macht Kraus so gefährlich. Wenn schon politisierende Künstler, dann doch, bitte, solche, die »vor der Moral die Basedowsche Krankheit kriegen« und »gesinnungstreu« auch dann noch »J'accuse« rufen, wenn der Richter schon geköpft ist.
 
Kraus und das Bürgerpack - wir wollen das Verhältnis nicht komplizierter machen, als es ist, und es ist auch ganz einfach. Was da im Feuilleton mit »jüdischen Selbsthaß« und anderen »Psycholozelach« (Kraus) umständlich argumentiert, ist so zweckhaft gemeint wie der plumpste Leitartikel. Beweis nötig?
 
»Die geistige Welt des Kommunismus ... organisiert sich doch aus dem Gedanken jener letzten Hoffnung, die die Verzweiflung bildet, und der Mut seiner Bekenner, der volle Einsatz auf einer Barrikade, die die Sozialdemokratie vor der Stirn hat, verbindet ihn wie mit dem Tod auch mit dem Leben ... der Teufel hole seine Praxis, aber Gott erhalte ihn uns als konstante Drohung über den Häuptern jener, so da Güter besitzen und alle andern zu deren Bewahrung und mit dem Trost, daß das Leben der Güter höchstes nicht sei, an die Fronten des Hungers und der vaterländischen Ehre treiben möchten.«  
Das reicht. Für eine Telefonüberwachung, zwei Hausdurchsuchungen und drei Berufsverbote.
 
Hermann L. Gremliza