»Man kann vielleicht einen Sklaven aus mir machen, aber bestimmt keinen gehorsamen«
Zum 100. Geburtstag des großen US-amerikanischen Schriftstellers James Baldwin sei hier ein Interview von Brigitte Jakobeit mit Baldwin wiederveröffentlicht, das in konkret 11/86 erschien. Es belegt eindrücklich, was auch Sabine Lueken im aktuellen Heft feststellt: Baldwin hat als politischer Denker nichts an Aktualität verloren.
James Baldwin, 62jähriger Romancier, Essayist und US-Bürgerrechtler, lebt seit 16 Jahren in Südfrankreich. Aber seine Erbitterung über den Rassismus - auch den europäischen - hat nicht nachgelassen. Brigitte Jakobeit sprach mit ihm über sein neues Buch, über Südafrika, die Deutschen und über den amerikanischen Traum, den kein Schwarzer träumt.
KONKRET: Vor einigen Jahren wurden in Atlanta 28 schwarze Kinder und Jugendliche ermordet. Als Täter wurde der 23jährige Wayne B. Williams – ein Schwarzer – verhaftet und zu zweimal lebenslänglich verurteilt. Sie haben die Umstände und Hintergründe des Prozesses untersucht und ein Buch darüber geschrieben. Warum gerade über diesen Fall?
Baldwin: Es war schwer zu erklären, was wirklich passiert war. Der Fall kam mir merkwürdig vor, weil die Mütter der Kinder mit dem Urteil nicht einverstanden waren. Ich habe keine Ahnung, ob der Angeklagte schuldig ist oder unschuldig; seine Schuld wurde jedenfalls nicht bewiesen.
KONKRET: Glauben Sie denn persönlich an die Schuld von Williams?
Baldwin: Es spielt keine Rolle, ob ich ihn für schuldig halte oder nicht. Ich stelle den Fall allein aus moralischen Gründen vor. Denn das Urteil wirft einige Fragen auf über das Land und über die schwarzen Amerikaner. Eine davon ist die Frage nach der Beziehung einer Gemeinschaft zu ihrem Staat und ihrer doppelten Verantwortung sich selbst und dem Land gegenüber. Manchmal zwingt einen die Verpflichtung gegenüber der Gemeinschaft zum Kampf gegen den Staat. Es gab Zeiten, in denen sich die Menschen aus Schwäche dem Willen des Staates unterworfen haben, aber ich glaube, daß die Gemeinschaft dem Staat Widerstand leisten muß, wenn dieser sich auf zweifelhaftem Boden bewegt.
KONKRET: Hat der Fall auch etwas zu tun mit der Schwäche der schwarzen Gemeinschaft, war der Fall so nur in Atlanta möglich?
Baldwin: Der Fall Williams ist in Atlanta passiert aufgrund des Märchens vom alten Süden, der Verbitterung und Verdrängung, der Schuld und der Unterdrückung von Schuld, von Terror und Lust. Das Rassenproblem ist in einigen Regionen des Südens besonders brisant. Und die sexuelle Frage hat auch etwas damit zu tun. Das alles spielt im Leben der Schwarzen eine wichtige Rolle. Der Staat kann die Gefahren, die das Leben der Schwarzen bedrohen, unmöglich beurteilen. So kommt es, daß da 26 Kinderleichen sind, und ein Mann den man als Täter verdächtigt, wird eingesperrt, weil er zwei erwachsene Männer ermordet haben soll. Das Gericht besteht darauf, daß es ein Muster gibt, mit dessen Hilfe die beiden Morde mit den 26 anderen in Verbindung gebracht werden können. Ich konnte kein Muster finden, ich konnte keine Verbindung herstellen zwischen den Morden an den erwachsenen Männern und den an den Kindern. Das beunruhigte mich und viele Leute in Atlanta, besonders die Eltern der Kinder. Aus dieser Frage ist das Buch entstanden.
KONKRET: Eine der betroffenen Mütter, Miss Camille Bell, heben sie besonders hervor.
Baldwin: Ich war sehr von ihr beeindruckt. Obwohl auch ihr Kind eines der Opfer war, behielt sie einen klaren Kopf. Sie war diejenige, die die Gemeinschaft vertrat und die erste, die es fertigbrachte, den Urteilsspruch und die Meinung des Staates abzulehnen.
KONKRET: Sie sprechen in Ihrem Buch von »Sorriness«, einer Art Krankheit, von der fast alle schwarzen Männer im Süden betroffen seien.
Baldwin: Ein schwarzer Amerikaner zu sein bedeutet immer die Konfrontation mit dem Sheriff, mit dem Boss, mit allen Institutionen der Macht. An vorderster Front in diesem Kampf steht der Mann. Der schwarze Mann war immer eine Herausforderung für die Weißen und die weißen Machtstrukturen. Daher lebte er in ständiger Gefahr. Der Blues und alle traurigen Lieder entstammen diesem Mythos, der Legende vom schwarzen Amerikaner, und auch aus der Ermordung und Entmannung des Schwarzen. Daher ist es fast unvermeidlich, daß schwarze Frauen ihre Söhne, Väter und Brüder vor dieser Gefahr schützen wollen. Wenn das einer Frau gelingt, wird er auf eine andere Art entmannt. Ein Mann, der zu sehr beschützt wird, wird kein Mann. Das, wovor eine Frau den Mann beschützen wollte, wird ihm auf jeden Fall zustoßen, und sie wird einer der Gründe dafür. Diese Dynamik und Spannung ist auch heute noch gültig.
KONKRET: Der neue Essay ist radikaler und offener als die früheren. Steckt dahinter eine gewisse Verbitterung und Ungeduld, weil sich so viel eben nicht verändert hat und das Gesicht der Macht auch heute noch weiß ist?
Baldwin: Verbittert bin ich nicht, ich fühle mich manchmal nutzlos, aber das ist eine andere Art von Verbitterung. Ich würde schon sagen, daß sich einiges verändert hat. Nur verändern sich Dinge nie so, wie Menschen, Regierungen oder Organisationen das gerne möchten. Jeder Wandel birgt Komplikationen in sich und zwingt einen, die Dinge mit einer anderen Optik zu betrachten und plötzlich ist da etwas, was vorher nicht zu sehen war. Generationen verändern sich auf sehr verschiedene Weise. Die meines Neffen beispielsweise, er ist 19 und war noch nicht mal geboren, als Martin Luther King ermordet wurde. Dennoch ist er durch dieses Ereignis beeinflußt worden. Mit der Zeit werden er und seine Freunde noch mehr über ihr Erbe herausfinden, aber das dauert noch. Wenn du über bedeutende soziale Veränderungen sprichst, mußt du einen großen Optimismus aufbringen. Was sich grundlegend geändert hat – und ich spreche jetzt von schwarz und weiß – ist die Fähigkeit der westlichen Welt, mich zu verändern und zu verführen, mich als Schwarzen. Es gab eine Zeit, da konnte ich verändert und verführt werden. Das war die Zeit, in der ich an das glaubte, was mich das Christentum gelehrt hatte. Für mich war das sehr wichtig, weil es ein Teil meiner menschlichen Reife wurde. Aber gleichzeitig wurde mir bewußt, daß hinter der Kirche die Soldaten und die Banken und dahinter wiederum die Macht lauerte. Und die Macht war dazu bestimmt, mich und alles, was ich hatte, zu beherrschen und meine Identität zu verändern, um einen gehorsamen Sklaven aus mir zu machen. Heute kannst du vielleicht einen Sklaven aus mir machen, aber bestimmt keinen gehorsamen, und da ich mich nicht mehr ändern und verführen lasse, ist die Frage der Macht keine Frage mehr. Südafrika beweist, daß wir es mit Macht und Eigeninteressen zu tun haben. Also müssen die Übereinkünfte in der Welt geändert werden. Und wenn dir das, was ich sage, nicht gefällt, ist es bestimmt keine Lösung, mich ins Gefängnis zu stecken und meine Kehle durchzuschneiden. Ich bin nämlich nur einer, der das sagt, was viele wissen. Afrika wird eines Tages frei sein. Der Einfluß des Westens auf die wirtschaftlichen Beziehungen nützt niemandem. Und was die Welt sich nicht leisten kann, wird sie irgendwie abschaffen.
KONKRET: Sie haben Europa und US-Amerika schon lange moralisch Bankrott erklärt. Gleichzeitig fordern Sie eine neue Moral. Was ist darunter zu verstehen?
Baldwin: Für mich heißt das, daß Rassen und Farben nicht verurteilt werden. Kindern ist es egal, ob dein Haar blond ist und meines schwarz oder ob deine Haut heller als meine ist. Sie nehmen das so hin. Wir stellen etwas mit ihnen an, wir sagen ihnen, daß sie nicht mit einem Juden oder Türken reden sollen. Wir erzählen ihnen alle diese Lügen. Es ist eine fürchterliche Eingrenzung eines Menschen, wenn er mit einer Rasse lebt, die man ihn zwingt zu verachten, was natürlich auch heißt, daß er Angst vor ihr hat. Und warum? Um eine bestimmte Identität aufrecht zu erhalten. Es ist wichtiger, ein Engländer oder ein Deutscher zu sein als ein Mensch. Aber wie lange ist Deutschland eine Nation? Frankreich war etwas früher eine Nation als Italien. Aber diese Symbole der Macht zerfallen allmählich. Sie haben nicht mehr ihre frühere Bedeutung, ihren früheren Wert. Warum sollten die Afrikaner ausgerechnet darin ihre Identität finden? Sie werden sich diesen Vorstellungen nicht anpassen. Die neue Moral ist also einfach die Einsicht, daß alle die Wahl haben, gemeinsam zu leben oder zu verkommen. Es gibt keinen Krieg zu gewinnen, nicht mal einen kleinen. Krieg ist veraltet. Wer sollte denn gewinnen?
KONKRET: Was ist mit Südafrika? Dort herrscht doch Krieg.
Baldwin: Die Menschen dort haben schon immer im Kriegszustand gelebt. Aber es ist ein inoffizieller, ein unerklärter Krieg. Er wurde nie als Krieg, sondern als eine bedeutungslose Unruhe unter Schwarzen betrachtet, für die Weißen war es das Problem, wie sie die Schwarzen ruhig halten konnte. Aber irgendwann erkennt der Sklave, daß er kein Sklave zu sein braucht. Und dann beginnt der Kampf und was auch mit dem früheren Sklaven geschieht, er wird nie mehr ein Sklave sein. Das ist keine Machtfrage, sondern eine Überlebensfrage. Ich versuche, etwas auszudrücken, was uns hilft, einen anderen Zustand von Freiheit zu erlangen. Eine Welt zu schaffen, in der wir uns nicht mehr voreinander fürchten müssen. Das verlangt in erster Linie die Abschaffung der Armut. Denn die Armut in der Welt ist von Menschen gemacht, und die, die davon betroffen sind, wissen das. Die Zeiten sind vorbei, in denen man schwarze Führer mit Waren und Schlössern kaufen kann. Wir haben sie immer als Analphabeten und als einen manipulierbaren Haufen abgetan, aber sie sind die stärkste Kraft auf der Erde.
KONKRET: An den Deutschen lassen sie kein gutes Haar. Die Geschichte, schreiben sie einmal, erreichte »eine Art Kulminationspunkt in der unbeschreiblichen, ja unsäglichen Kombination von Arroganz und Mittelmäßigkeit, die jenes Vetternpaar, die Engländer und die Deutschen, kennzeichnet.«
Baldwin: Nehmen wir die Türken oder auch den schwarzen GI in Deutschland. Sie stellen eine doppelte Bedrohung dar: für die Wirtschaft und für das, was man wohl das deutsche Selbstbild nennt, was sie ihre »Identität« nennen, was wiederum ihre Geschichte ist. Darin ist kein Platz für den Gastarbeiter, der nicht einmal Christ, sondern Muslim ist mit anderen Lebensgewohnheiten. Das konnte man ignorieren, solange man ihn nicht brauchte. Die Menschen tun sich schwer mit der Vorstellung, daß sie vom sogenannten 'Wilden' etwas lernen müssen. Diese Zivilisation beruht auf vielen anderen Zivilisationen. Wir haben das nicht alles alleine gemacht. Und ihre Wurzeln, ihre Kraft findet sich mitunter bei den Türken, den Juden und den Negern und das greift das europäische Selbstbild an. Aber Tatsache ist, daß die Welt ohne diese Menschen nicht auskommt.
Es gibt Tausende von heimatlosen Menschen in der ganzen Welt. Wir können nicht länger nationale Grenzen festlegen – Grenzen waren immer willkürlich und eine bestimmte Art von Staatsschutz. Das funktioniert nicht mehr. Wir brauchen einander zu sehr, und die Armut in der Welt bedroht die ganze Welt. Kurz, ich bin gekommen, um zu bleiben, und auch der Türke wird bleiben. Auch in England gibt es Tausende von Menschen, Schwarze wie mich, die niemals ihre Heimat gesehen haben, die in England geboren wurden und daher Engländer sind. Diesen Menschen schuldet England genausoviel, wie jedem anderen auch. Es ist unfair, sie jetzt, wo sie nicht mehr gebraucht werden, in ein Chaos zurückzuwerfen, das Europa geschaffen hat.
KONKRET: Sie betonen, daß US-Amerika Ihr Land sei. Warum leben Sie in Südfrankreich?
Baldwin: Ich lebe hier, um zu arbeiten. In Amerika kann ich das nicht, aber es ist tatsächlich mein Land und ich liebe es sehr. Für mich ist es wichtig, meine Familie und meine Freunde zu sehen. Ich versuche immer noch, herauszufinden, wie ich mit diesem Land umgehen muß was dort vor sich geht. Eines weiß ich sicher: Amerika wird einen enormen Preis für die Institution der Sklaverei bezahlen.
KONKRET: Gibt es eine schwarze Version vom amerikanischen Traum?
Baldwin: Der amerikanische Traum ist ein europäischer Traum. Als ich nach Europa kam, begegnete ich Menschen aus aller Welt. Besonders was die Europäer anging, wurde mir klar, daß ich ihnen bereits in Amerika begegnet bin, bevor sie Amerikaner wurden. Als ich in Amsterdam war, erkannte ich, daß ich in Harlem geboren war, daß es aber auch ein Harlem in Holland gab. Ebenso gibt es eine Brooklyn Bridge in Holland, die natürlich anders als unsere ist. Ich dachte an New England, Orte wie Paris in Tennessee oder Rom in Georgia. Das Leben hatte diesen Menschen einen komischen Streich gespielt, denn alle hatten Europa zu einem bestimmten Zeitpunkt verlassen. Aber in Europa waren sie nicht weiß, noch nicht, sondern Holländer, Deutsche, Engländer usw. Erst in Amerika wurden sie weiß, mußten sie weiß werden, weil ich schwarz war. Hier in Europa mußten sie nicht weiß werden, weil ihre Sklaven weit weg waren. Erst mit der letzten Generation mußten sie ihre Sklaven sehen, nämlich als diese nach Europa kamen. Bisher hatten sie in den Kolonien gearbeitet, waren unsichtbar. Eine Bedrohung für die europäische Identität stellten sie erst dar, als sie menschliche Wesen mit Frauen, Kindern und sonderbaren Eßgewohnheiten wurden. Da entstand der Weiße. Das ist eng mit dem American Dream verknüpft. Diejenigen, die Amerika besiedelten, gingen nicht von hier weg, weil sie besonders heldenhaft waren oder nach Freiheit suchten. Sie mußten Europa aus verschiedenen Gründen verlassen und dachten, dort wäre alles besser. Sie waren Söhne eines Lords oder unbequeme Töchter von Aristokraten. Alles Menschen, die in Europa als Unerwünschte, Ausschuß, potentielle Revolutionäre, Schwule, Lesben, Randgruppen, Menschen ohne Zukunft in dieser Gesellschaft galten. Sie verließen das Land mehr oder weniger freiwillig. Georgia war ursprünglich eine Sträflingskolonie. Viele, die dort landeten, wollten das nicht; daher mußten sie schnell einen Traum daraus machen. Der Schlüssel zu diesem Traum ist, daß sie weder schwarz noch weiß waren. Es wurde für jeden ein Land der ungeahnten Möglichkeiten, den Sklaven natürlich ausgenommen. Der ungeheure Wohlstand wurde durch die Sklaverei geschaffen. Das bedeutete noch einmal mehr, daß die Menschen, die das Land besiedelten, weiß sein mußten. Nicht nur das, sie mußten in sich einen psychologischen Mechanismus entwickeln, um den Sklaven, die schwarze Person, auf Abstand zu halten. So konnten sie vom Nigger nicht bedroht oder beschmutzt werden. Schwarz zu sein, war gefährlich, weiß zu sein bedeutete Sicherheit. Der American Dream besagt auch, daß es in Amerika jeder zu etwas bringen kann, reich werden kann, vorausgesetzt er ist weiß. Das ist natürlich Blödsinn.
Der American Dream war zu allen Zeiten durch die Institution der Sklaverei verdorben und bedroht. Die Sklaverei hatte verheerende Folgen, nicht nur für die Schwarzen, auch für die Weißen. Weil es der Rechtfertigung bedurfte, daß ein Mensch ein Sklave war. So mußten alle möglichen Märchen erfunden werden, deren Bedeutung darin lag, daß dieser Mensch es verdiente, ein Sklave zu sein. Und wenn er das verdiente, konnte man auch kein Verbrechen an ihm begehen. Die weißen Amerikaner und die westliche Welt haben dieses Märchen erfunden, um die Verbrechen an den Sklaven zu rechtfertigen.
»Das Gesicht der Macht bleibt weiß«
In seinem neuen Essay »Das Gesicht der Macht bleibt weiß« recherchiert Baldwin die Fakten eines Justizurteils. Von 1979-1981 wurden in Atlanta (Georgia) 28 Morde an schwarzen Kindern und Jugendlichen begangen. Als Täter wurde 1982 der 23jährige Farbige Wayne B. Williams zu zwei lebenslänglichen Freiheitsstrafen verurteilt. Es handelte sich um einen Indizienprozeß, in dem die Schuld von Williams nicht bewiesen werden konnte. Baldwin analysiert die Bedingungen und die Hintergründe dieser Morde. Hierzu legt er die Geschichte der von Schwarzen regierten Stadt Atlanta frei, das Leben seiner Bewohner, des Richters, des vermutlichen Mörders und der Opfer.
Die Opfer: Auf ihrer Seite steht Baldwin, denn alle ermordeten Kinder waren »arm und schwarz« und als »Herumtreiber« verschrien. Das mag der Grund sein, daß die Ermittlungen erst noch dem 13. Mord verstärkt wurden, nachdem der Druck der Öffentlichkeit zugenommen und die Mutter des vierten Opfers mit ihrem Komitee »Schluß mit den Kindermorden« das schleppende Vorgehen der Behörden kritisiert hatte. Baldwin zieht daraus den Schluß: »Die Behörden, die Bürokratie – sie wittern eine Gefahr nicht so schnell wie der bedrohte einzelne. Die 'Obrigkeit' wittert nur Gefahren, die ihr selber drohen, und es bedarf schon einer Katastrophe, bevor eine Gefährdung der Privatperson als Bedrohung der öffentlichen Sicherheit verstanden wird.«
Der Täter: Wayne B. Williams, »dicklich, schwach und arrogant«, trogt nichts zu seiner eigenen Entlastung bei. Durch sein störrisches und ungeschicktes Verhalten provoziert er bei allen am Prozeß Beteiligten den Glauben an seine Schuld. Baldwin zweifelt Williams' Schuld oder Unschuld nicht an, aber: »Es ist ein tödliches juristisches Prinzip, eine Person zu 'markieren', bevor man sie eines Verbrechens beschuldigt, sie festnimmt und schließlich vor Gericht stellt. Wem das widerfährt, für den gibt es keinen, wie man das im amerikanischen Jargon nennt, fairen Prozeß: Er ist bereits verurteilt.«
Die Justiz: Die Anklage lautete auf die beiden letzten Morde, deren Opfer die einzigen erwachsenen Männer waren. Insgeheim jedoch wurden Williams 28 Morde unterstellt. Um seine Schuld beweisen zu können, legte die Staatsanwaltschaft das Prinzip der »prior acts«, früherer Handlungen, zugrunde, aus denen sich Verhaltensmuster ableiten ließen, die offiziell nichts mit der Anklage zu tun hatten, inoffiziell diese jedoch stützten. Auch die drei Verteidiger von Williams trugen wenig zu seiner Entlastung bei und waren sich in ihrer Vorgehensweise nicht einig.
James Baldwin stellt diese Fakten nicht ohne Leidenschaft und Polemik dar: Die Eltern des Angeklagten verstricken sich – um ihren Sohn zu retten – in widersprüchliche Aussagen. Baldwin weist an dieser Stelle darauf hin, »daß sie (die Eltern) nicht den geringsten Grund hatten, sich zur wahrheitsgemäßen Aussage verpflichtet zu fühlen einer Republik gegenüber, die ihnen nichts als Lügen aufgetischt hat.« Und mit zwingender Logik fragt er wenig später: »Was ist das für ein Staat der sich offenbar wirklich einredet, daß Männer, Frauen und Kinder, die kurz vor dem Verhungern stehen, eine 'kommunistische' Bedrohung darstellen?«
So dient der Schauplatz Atlanta dazu, ein Netz von Verflechtungen zu entwirren, dessen Stränge nach Nordamerika, Europa und Afrika reichen. »Das Gesicht der Macht bleibt weiß« mag eine bittere Erkenntnis dieses engagierten und wortstarken Lageberichts zum Thema Schwarz-Weiß sein.