Obdachlosigkeit light

Ein neues Buch zeigt den aktuellen Stand der populärwissenschaftlichen Soziologie: Obdachlosigkeit hat mit uns allen zu tun – viel mehr als Diskriminierung abbauen, lässt sich aber nicht machen. Von Till Schäfer

Die deutsche Regierung brüstet sich damit, „sich früh zu den globalen Zielen für nachhaltige Entwicklung der Agenda 2030 der Vereinten Nationen bekannt“ zu haben. Die Ziele könnten nicht höher gesteckt sein: „Armut in jeder Form und überall bis zum Jahr 2030 zu beenden sowie allen Menschen einen Zugang zu angemessenem, sicherem und bezahlbarem Wohnraum“ zu ermöglichen. Diese hehren Ziele sind, wenn überhaupt, nur revolutionär zu verwirklichen, denn solange an Privateigentum und Kapitalakkumulation festgehalten wird, sind Armut und Obdachlosigkeit strukturell bedingt. Dass aber Obdachlosigkeit mit dem „ganz Falschen“ nichts zu tun haben soll, bemüht sich das deshalb scharfsinnig betitelte Buch Obdachlosigkeit. Warum sie mit uns allen zu tun hat zu erklären.

Matthias Drilling, Nora Locher, Esther Mühlethaler und Jörg Dittmann haben den Titel ihres Buchs treffend gewählt. Ihr Anspruch ist es, „sich an eine breite interessierte Öffentlichkeit“ zu wenden, was sich schon im Layout und im Schreibstil wiederfindet. Das Buch ist trotz des akademischen Hintergrunds der Autoren und Autorinnen keine wissenschaftliche Abhandlung, sondern im Austausch mit Betroffenen entstanden. Einführend werden persönliche Porträts gezeichnet; seitenfüllende Schlaglichter oder Zitate sollen den Einstieg ins Thema entkrampfen und zeigen zugleich eine Vielfalt an Faktoren an, die für Obdachlosigkeit relevant sind. Hinzu kommen cartoonhafte Illustrationen, kurze Kapitel, markante Überschriften, Alltagssprache und poppige Aufmachung: All das steht im Dienst der Niedrigschwelligkeit im Sinne einer betriebsökonomischen Rechnung, Leser/innen anzusprechen, für die ein Buch über Obdachlosigkeit erst interessant wird, wenn es leicht und authentisch daherkommt. Und dank dem Anhang des Buchs – einer Reihe von grafisch aufbereiteten empirischen Daten und einem Glossar –, kann man bei der nächsten engagierten Diskussion mit Fakten- und Begriffswissen auftrumpfen.

Die Autorinnen und Autoren zeichnen zwar ein umfassendes Bild der Bedingungen von Obdach- und Wohnungslosigkeit, beziehen ihre Analyse aber nur auf die Erscheinungsform der Bedingungen, aus denen Obdachlosigkeit erwächst. Eine Erklärung der Bedingungen aus den gesellschaftlichen Verhältnissen heraus, bleibt deshalb oberflächlich.

Daraus erschließt sich die Rolle, die die Autorinnen und Autoren dem Staat zuschreiben. Einerseits scheint er den Sachzwängen des Marktes ausgeliefert: Dass sich „der Sozialstaat … keine eigenen Wohnungen mehr leisten“ kann und „auch nicht mehr als Vermieter auftreten“ will, ist nun mal, so will das Buch gelesen werden, der Lauf der Dinge, nicht politisches Kalkül. Überhaupt wird der Markt, ob bei Wohnungen oder der Lohnarbeit, als naturwüchsig verstanden: „(Wenn) die Privatwirtschaft in den Wohnungsbau investiert, muss sie auch Geld damit verdienen“, heißt es, und die Wahrheit, die darin steckt, nämlich, dass ein Profitzwang besteht, wird naturalisiert. Eine Kapitalgesellschaft oder ein ähnliches Unternehmenskonstrukt verfolgt zwar nur diesen Zweck, aber die Möglichkeit eines anderen Ganzen steht gar nicht mehr zur Debatte. Ein weiterer Sachzwang seien die „internationalen Energieziele“. Sie führen „zu Massenkündigungen und Abbrüchen von bestehenden Wohnungen, welche durch teurere Neubauten ersetzt werden – bezahlbarer Wohnraum wird so also zunehmend zerstört“. Eine Kritik an der Warenform des energieeffizienten Wohnraums bleibt aus.

Tritt der Staat hingegen als Problemlöser auf, behandelt er die von Obdachlosigkeit betroffenen Menschen paternalistisch: „(Es) hängt davon ab, ob der Staat früh genug erkennt, wann ein junger Mensch benachteiligt ist, und ihm hilft, aus dieser Situation herauszukommen.“ Wo Kritik an staatlichem Handeln geübt wird, fällt sie milde aus. Das illegalisierte Menschen auf Grund ihres Status ein hohes Risiko tragen obdachlos zu sein, ist bekannt. Substanzielle Kritik an der ursächlichen politischen Praxis bleibt aus. Bei der sittlichen Empörung über die „politische Doppelmoral des Staates“, wenn gezielt Fachkräfte angeworben und gleichzeitig rigoros abgeschoben wird, lassen es die Autor/innen bewenden.

Einzelne Punkte sind den Autoren und Autorinnen trotz des grundlegenden Mangels gelungen. Die Beschreibung der Verdrängungen und der Ausgrenzungsmechanismen im städtischen Raum ist präzise, das Aufräumen mit Stereotypen von und Ressentiments gegen bettelnde Menschen verdienstvoll. Außerdem wird „Housing First“, also die bedingungslose Bereitstellung von Wohnraum, als sinnvolle Unterstützungsmaßnahme überzeugend einbezogen.

Die Schlusskapitel offenbaren aber noch einmal die marktkonforme „Kritik“ unverblümt. Zunächst wird selbst die Deckelung von Mieten als „extreme Form von staatlichem Einfluss“ bewertet. Eine „weniger radikale Form der Beeinflussung“ seien Steuergeschenke an Eigentümerinnen und Eigentümer. Und was der Staat eigentlich tun könne, sei, Diskriminierungen abzubauen, weshalb auch das Totschlagwort nicht fehlen darf, das im Diplomatiejargon längst ein geflügeltes ist: Wichtig sei es, Mut zu haben, um „über Obdachlosigkeit vorurteilsfrei zu sprechen.“ „Wir als Sozialstaat“ werden es irgendwie schon richten.

Matthias Drilling u. a.: Obdachlosigkeit – Warum sie mit uns allen zu tun hat. Scheidegger & Spiess, Zürich 2024, 208 Seiten, 15 Euro