Aussortiert

Ruth Oppl über Segregation in Zeiten der Corona-Krise

Warum ist Deutschland bisher vergleichsweise glimpflich durch die Pandemie gekommen? Die Antwort findet sich in der Begründung des stellvertretenden Leiters des Frankfurter Gesundheitsamtes, Antoni Walczok, der darlegte, warum das Heimspiel der Frankfurter Eintracht gegen die TSG Hoffenheim mit 8.000 erwarteten Fans im Stadion stattfinden könne, obwohl in Frankfurt die Zahl der Ansteckungen in die Höhe geschossen war: »Wir sehen keine Überschneidungen zwischen dem lokalen Infektionsgeschehen und den Gästen des Eintracht-Frankfurt-Spiels.«

Angesteckt hatten sich, ausgehend vom »modernsten und leistungsfähigsten Paketzentrum mit einer Sortierkapazität von 50.000 Paketen pro Stunde« (DHL Group), vor allem Bewohner einer »Gemeinschaftsunterkunft«, in der Geflüchtete, Obdachlose und osteuropäische EU-Bürger – also jene, die dafür sorgen, dass 50.000 Pakete in der Stunde abgefertigt werden – zusammengepfercht sind. Solche »Unterkünfte«, »(Wohn-)Heime« und »Lager« sind seit Beginn der Pandemie Corona-Hotspots. Die darin hausenden Menschen sortiert der deutsche Staat nach verwaltungstechnischen Kategorien: Geflüchtete zu Geflüchteten, Alte zu Alten, Billiglohnarbeitskraftbehälter zu Billiglohnarbeitskraftbehältern.

»Die Abstandsregeln und Hygienemaßnahmen wurden nicht eingehalten«, heißt es stets in offiziellen Verlautbarungen. Als ob das möglich wäre, wo Menschen zusammengepfercht auf engstem Raum in Mehrbettzimmern »wohnen«. Für die Pandemiebekämpfung ist es praktisch, dass diese isolierten Menschengruppen kaum Kontakt zur Mehrheitsgesellschaft haben – es gibt »keine Überschneidungen«.

Wie gering die »Überschneidungen« sind, konnte man in einem Interview nachlesen, das die »Welt« mit dem Schriftsteller Daniel Kehlmann geführt hat. Darin teilt er mit, sich durch den drohenden Lockdown in New York an schlimme Verhältnisse erinnert zu fühlen: »Wenn man eine Gesellschaft will wie Nordkorea, dann braucht man auch den Gulag.« Und weiter: »Ich ging an diesen geschlossenen Geschäften vorbei und hatte Angst.« Weswegen er mit seiner Familie die Stadt »fluchtartig« verlassen habe, um seine Zeit auf Long Island zu verbringen. »Ich saß in diesem Haus, einem ganz kleinen Haus. Es war eiskalt draußen.« Sosehr sich Kehlmann in seinem ganz kleinen Haus selbst bedauert, bleibt ihm das Leid anderer nicht verborgen: »Eine Freundin von mir hat ein Geschäft in Soho und zahlt 60.000 Dollar im Monat Miete. Man kann sich vorstellen, was eine Schließung da heißt.«

Den qualvollen Tod einer Luxusboutique kann kein Menschenleben aufwiegen.

Ruth Oppl