Zum Tod von Stephen Sondheim

Stephen Sondheim ist am vergangenen Freitag gestorben. In konkret 03/10 gratulierten Barnaby Tucker und Cornelius Hackl dem großen amerikanischen Musicalkomponisten zum Achtzigsten.

»Ich habe ›Cats‹ nicht gemacht«  

Der amerikanische Musicalkomponist Stephen Sondheim wird achtzig, und keiner hört hin. Jedenfalls in Europa.  Von Barnaby Tucker und Cornelius Hackl

Zu seinem Geburtstag findet am 22. März die Show »Sondheim 80« im New Yorker Roundabout Theater statt, und die Crème de la crème des Broadway wird auftreten: Bernadette Peters, Lauren Bacall, Barbara Cook, Vanessa Williams, Mandy Patinkin, Len Cariou, Joanna Gleason und Angela Lansbury. Bei uns aber, wo Städte wie Hamburg grausigste Musicalpaläste hingestellt haben, kennt man Stephen Sondheim so wenig wie die meisten der zu seinen Ehren singenden Künstler.

Das Musical ist eine sehr amerikanische Kunstform, deren Popularität in Europa nicht mehr als dreißig Jahre zurückreicht und also erst nach ihrem eigentlichen Niedergang begann. Aus der Verbindung von Operette und Vaudeville war in den zwanziger Jahren am Broadway ein Gebilde entstanden, das sich die Akzeptanz seiner opernhaft-irrealen Natur – Menschen singen ohne ersichtlichen Grund zu den Klängen eines unsichtbaren Orchesters – durch ständiges Augenzwinkern erkaufte. Typisch für diese selbstironische Haltung des frühen Musicals ist, die Handlung in der Unterhaltungsbranche spielen zu lassen, auf einer Bühne auf der Bühne. Selbst die intelligentesten und unterhaltsamsten Stücke von Cole Porter, Irving Berlin, Richard Rogers, Lorenz Hart und der Gershwins bleiben Nummernrevuen.

Erst die großen Komponist-Texter-Teams Rogers/Hammerstein und Lerner/Loewe machen das Musical zu einem narrativen Genre. Es entfernt sich vom Vaudeville und bemüht sich um eine komplexe, fortlaufende Handlung, ohne das Erbe des Revuetheaters je ganz abschütteln zu können. Auch Sondheims Werke kommen ohne musikalische Zitate der Tin Pan Alley nicht aus. 1971 schreibt er mit »Follies« – einer Art Klassentreffen inzwischen ergrauter Revuegirls – eine Nummernrevue, die ihren eigenen Untergang feiert. Eine Hommage, die, wie der Musiker und Kritiker Clive Barnes schreibt, zugleich an der Weiterentwicklung des Genres arbeitet: »›Follies‹ ist elegant, innovativ, hat einige der besten Lyrics, die ich je gehört habe, und vor allem ist es ein ernsthafter Versuch, sich mit dem Musical als Form auseinanderzusetzen. «

Von Sondheims rühmlichen Bemühungen spürt der Besucher heutiger Musicals wenig. Meist hat er die Wahl zwischen notdürftig durch eine völlig abwegige Handlung zusammengehaltenen Greatest-Hits-Shows (»Mamma Mia«, »Ich war noch niemals in New York«) und überdimensional aufgeblasenen Spektakeln ohne Plot, ohne Lyrics und ohne Musik (alles von Andrew Lloyd Webber). Sondheim kommt in Europa nicht vor. Auch in den USA wird er zwar mit Kritikerpreisen überhäuft und ist in der öffentlichen Rede (»Desperate Housewives «, »Simpsons«) präsent, aber diese Präsenz steht in keinem Verhältnis zu seinem eher bescheidenen kommerziellen Erfolg. Warum sich mit Sondheim kein Geld machen lässt, erklärt der widerliche Clown in den »Simpsons« so:

Crusty: Komplexe Harmonien, knifflige Lyrics, prägnante Beobachtungen der modernen Gesellschaft. Was ist das denn für ein Mist? Wo ist die Würze? Mach einfach das, was du auch in »Cats« gemacht hast.

Sondheim: Ich habe »Cats« nicht gemacht.

Crusty: Hast du nicht? Oh, nein. O.k., ich versuch, das noch mal zu retten. Gib mir einfach eine peppige ...

Sondheim: Ich könnte einen Kontrapunkt dazu schreiben ...

Crusty: Kein Kontrapunkt! Peppig!

»Peppig« will Sondheim nicht. Weder schreibt er Hits noch »große« Leitmotive, auch wenn er ausgiebig mit motivischem Material arbeitet. Er erschafft mit jedem Stück ein ganz eigenes durchkomponiertes Universum, das an die dissonantesten Grenzen der Tonalität geht und in dem jeder Charakter eine auf ihn zugeschnittene musikalische Stimme besitzt. Auch Sondheims Plots stoßen das Musical immer wieder an die Grenzen der Massentauglichkeit: Besaßen »Company« und »Sunday in the Park with George« laut Sondheim zwar noch eine story, aber keinen plot mehr, so ist »Pacific Overtures« nur noch eine poetisch-rhapsodische Erörterung der Landung von Commodore Matthew Perry in Japan und der Folgen des Vertrags von Kanagawa. Konsequent betreibt Sondheim die Destruktion des Bekannten, das er mit dessen eigenen Waffen schlägt: Seine Märchen müssen der Magie und höheren Macht abschwören, seine morality plays können lange auf so etwas wie ausgleichende Gerechtigkeit warten, und in seinen Revuen artikuliert sich vor allem der Schmerz darüber, den eigenen Untergang überlebt zu haben.

Die ambivalente Wirklichkeit findet ihr musikalisches Äquivalent im Kontrapunkt. In Ensemblenummern führt die dissonante Kontrapunktik mehrere Handlungsstränge und Schauplätze so eng, dass das hier vorgestellte Universum sich zu seiner tragischen bis grausamen Essenz verdichtet. Die besteht in Sondheims in London spielendem Schauermärchen »Sweeney Todd«, das sich musikalisch und inhaltlich bewusst in die Tradition der »Dreigroschenoper « und des »Barbier von Sevilla« stellt, in der Einsicht, dass in einer Welt, in der der Unterdrückte nur als Verbrecher zum Subjekt werden kann, dem Schuldzusammenhang nicht zu entrinnen ist. Vor die Wahl gestellt, entweder gegessen zu werden oder selbst zu essen, schlitzt Sweeney, der etwas andere Figaro, all seinen Kunden die Kehle auf und lässt sie ein Stockwerk tiefer von seiner Geliebten zu Meat Pie verarbeiten. In »Joanna«, einem großangelegten Quartett, wird Sweeneys Versuch, sein Verbrechen durch Liebe zu legitimieren, von dessen heruntergekommenem Objekt moralisch verurteilt, eine Verurteilung, die kontrapunktiert wird durch jugendliche Liebesbezeugungen, die, selbst noch unschuldig, sich dennoch der Zwangsläufigkeit bewusst sind, mit der sich »steal« auf »feel« reimt.

»A Little Night Music«, ein auf Ingmar Bergmans Film »Das Lächeln einer Sommernacht« basierendes Musical, ist eines von Sondheims erfolgreicheren Stücken, vermutlich wegen seiner grundlegenden Heiterkeit und des vorherrschenden Dreivierteltakts, vor allem aber wegen »Send in the Clowns«, dem einzigen wirklichen Sondheim-Hit, den die Größten gesungen haben: Sinatra, Streisand. Warum nicht mehr davon? Schließlich kommt die Sondheim-Figur, die in den »Simpsons« von Crusty dazu verdonnert wird, billige Showtunes zu spielen, ja auch auf den Geschmack: »Hey, dieses peppige Zeug ist gar nicht schlecht, vielleicht schreib ich doch den Jingle für Buzz-Cola.«

Barnaby Tucker und Cornelius Hackl schrieben in KONKRET 11/09 über Barbra Streisand

Foto: Stephen Sondheim, ca. 1970 (c) Unbekannt, via Wikimedia Commons