»Wir wollen keinen Wohlfühlort schaffen«

Interview mit Louis Wörner von der Initiative Dessauer Ufer über das »Lagerhaus G« und die Erinnerungspolitik der Stadt Hamburg

Wie steht es in Hamburg generell um Erinnerungskultur und Gedenkstätten?

Die Stadt Hamburg hat lange gebraucht, um überhaupt NS-Gedenkstätten und –Erinnerungsorte zu etablieren. Das Gelände der KZ-Gedenkstätte Neuengamme beispielsweise, die mittlerweile ein zentraler Erinnerungsort ist, wurde nach Kriegsende viele Jahre als Gefängnis genutzt. Es hat sehr viel Engagement von Angehörigen, Überlebendenverbänden und verbündeten Gruppen gebraucht, bis dort 2005 diese Gedenk- und Dokumentationsstätte in ihrer heutigen Form eröffnet wurde. Und seither versucht die Stadt Hamburg, alles an diese Gedenkstätte zu delegieren, was irgendwie mit der Erinnerung an den Nationalsozialismus zu tun hat. Das kann nicht funktionieren, weil es primär eine Gedenkstätte zur Erinnerung an das dort betriebene Konzentrationslager ist. Zudem liegt Neuengamme außerhalb der Stadt.

Im Stadtzentrum selbst gab es dagegen lange Zeit nur wenige Gedenkstätten, obwohl es durchaus Orte in Hamburg gibt, die mit der nationalsozialistischen Verfolgungsgeschichte in Verbindung stehen. Hamburg musste immer wieder dazu gebracht werden, sich mit der Tatsache auseinanderzusetzen, dass während des NS in der Stadt keineswegs bloß neutrale wirtschaftliche Interessen verfolgt wurden und man sich nicht nur irgendwie mit der nationalsozialistischen Herrschaft arrangiert hat, sondern dass diese Interessen selbst eng mit der NS-Herrschaft verbunden waren.

Sehen Sie Leerstellen in der Erinnerung an Zwangsarbeit im Hafengebiet?

In Hamburg gab es eine halbe Million Zwangsarbeiter/innen. Daran gibt es nach wie vor quasi keine Erinnerung. Es gibt eine wissenschaftliche Auseinandersetzung damit, es gibt ein bestimmtes Bewusstsein bei Initiativen oder Angehörigenverbänden dafür, aber in der Öffentlichkeit und im öffentlichen Raum findet das keinen Platz.

Der Hamburger Hafen ist ein symbolträchtiger Ort, der für das Selbstbild der Stadt wichtig ist. Und Hamburg lässt es sich einiges kosten, das Image der weltoffenen Hafenstadt zu pflegen. Doch auch die Geschichte des Hamburger Hafens ist eng mit dem Thema Zwangsarbeit verknüpft.

2017 hat sich die Initiative Dessauer Ufer mit dem Ziel gegründet, das »Lagerhaus G« am Ort des ehemaligen KZ-Außenlagers auf dem Kleinen Grasbrook in Hamburg zu erhalten und dort einen Gedenkort einzurichten. Was konnten Sie bislang erreichen?

Es gibt dieses riesige Gebäude an der Hamburger S-Bahn-Station Veddel, dessen Geschichte lange Zeit überhaupt nicht präsent war. Das Außenlager Dessauer Ufer ist eines der größten Außenlager in der Stadt Hamburg und das größte Frauenaußenlager gewesen. Das Gebäude wurde in der Nachkriegszeit jedoch einfach als Lagerhalle genutzt. Es gab Erwähnungen in verschiedenen Forschungsarbeiten und einzelne Berichte von Überlebenden. Wir mussten also wirklich lange und systematisch Informationen zusammentragen. Während wir zu Beginn unserer Tätigkeit noch viele Rückmeldungen bekamen, dass unsere Wünsche nach einem Gedenkort zu hoch gegriffen seien und bestimmt keinen Erfolg haben würden, haben inzwischen mehr Menschen ein Bewusstsein dafür, dass es sich hier um einen wichtigen Ort nationalsozialistischer Verfolgung in Hamburg gehandelt hat und dass eine zukünftige Nutzung des Gebäudes nicht daran vorbeikommen kann, sich auch mit der Geschichte dieses Hauses auseinanderzusetzen.

Im Koalitionsvertrag zwischen SPD und Grünen in Hamburg ist festgeschrieben, dass dort ein Gedenkort entstehen soll, und die Eigentümerin des Gebäudes, eine niederländische Investorengesellschaft, möchte dort auch an die NS-Geschichte des Ortes erinnern. Das hat viel damit zu tun, dass es öffentlichen Druck und eine öffentliche Auseinandersetzung mit diesem Ort gibt.

Das »Lagerhaus G« wurde 2018 von einer privaten Eigentümergesellschaft erworben, die mittlerweile unter dem Namen Lagerhaus G Heritage KG auftritt. Der Eigentümergesellschaft steht eine Stiftung nahe, die laut ihrer Website dasselbe Ziel verfolgt wie Ihre Initiative: die Einrichtung einer Gedenkstätte. Wie sieht die Zusammenarbeit mit der Stiftung aus?

Lange Zeit gab es Kontakt mit einem Vertreter der Eigentümer, aber kein Wissen darüber, wer tatsächlich die dahinterstehenden Investoren sind. Mittlerweile ist klar, dass es sich dabei vor allem um einen niederländischen Immobilieninvestor handelt. Anfangs durften wir Besuche von Angehörigen vor Ort und Führungen im Haus durchführen. Mittlerweile ist dieser Kontakt abgebrochen. Wir hatten nicht mehr den Eindruck, dass eine Kooperation vor Ort hilfreich ist. Führungen im Haus waren nicht mehr möglich und sind es nach wie vor nicht. Auch Archivzugänge sind nicht gewährleistet worden.

Mittlerweile gibt es diese Stiftung, die den Eigentümern nahesteht und an der auch einzelne Angehörige beteiligt sind. Wir finden es gut und wichtig, dass sich Angehörige dort engagieren und sich in die Diskussion um die Zukunft dieses Gebäudes einbringen. Wir sehen aber die Vermischung von kommerziellen Interessen und Gedenkpolitik sehr kritisch und sind gespannt, wie das Konzept dieser Stiftung dann tatsächlich aussieht. Gedenken sollte unabhängig von kommerziellen Interessen sein und im Austausch mit allen Beteiligten und einer kritischen Öffentlichkeit erfolgen.

Noch in diesem Jahr soll das gesamte Areal an die Hafencity Hamburg GmbH übertragen werden. Schon beim Stadthaus, der ehemaligen Gestapo-Zentrale, und auch beim Denk.mal Hannoverscher Bahnhof, dem Gedenkort für die Deportierten, fällt auf, dass das erinnerungspolitische Konzept der Stadt Hamburg zunehmend auf eine Privatisierung von Gedenkkultur setzt.

Ja, die Stadt Hamburg hat diese historisch relevanten Orte und damit auch die Verantwortung für gewisse erinnerungspolitisch bedeutsame Fragen privatisiert. Im Fall des Stadthauses wurde im Zuge der Privatisierung festgelegt, dass ein 750 Quadratmeter großer Gedenkort entstehen soll. Aber es ist letztlich nur eine 50 Quadratmeter große Ausstellungsfläche geworden, die Teil einer Buchhandlung und eines Cafés ist. Die Stadt Hamburg erklärt sich nicht bereit, in den Konflikt mit dem Investor zu gehen und für einen größeren und umfassenderen Gedenkort zu kämpfen, der einer Nutzung des Ortes als Shoppingmall vielleicht entgegenstehen würde.

Im Fall des Hannoverschen Bahnhofs soll sich das Dokumentationszentrum das Gebäude mit der Firma Wintershall teilen, die massiv von Zwangsarbeit profitiert hat und sich schon vor 1933 als Unterstützerin der NSDAP hervorgetan hat. Es sind wie immer Angehörigen- und Überlebendenverbände sowie die kritische Öffentlichkeit gewesen, die darauf gedrängt haben, dass dort überhaupt Gedenkorte entstehen. Gedenkpolitik steht einem privatwirtschaftlichen Betrieb in gewissem Sinne entgegen. In Hamburg verknüpfen sich Kämpfe um Gedenken mit klassischen Fragen der kritischen Stadtpolitik: Wem gehört der öffentliche Raum? Wer bestimmt darüber, wie er gestaltet wird? Und wer entscheidet darüber, wie Gedenkorte gestaltet werden und wie in einer Stadt wie Hamburg der Opfer des Nationalsozialismus gedacht wird? Die Antwort der Stadt Hamburg läuft darauf hinaus, all das privaten Investoren zu überlassen. Und da sind Initiativen wie unsere ein sehr wichtiges Korrektiv.

Wie stellt sich Ihre Initiative eine zukünftige Nutzung des Komplexes »Lagerhaus G« vor?

Das Gebäude ist insgesamt 24.000 Quadratmeter groß. Unsere Nutzungsvision sieht vor, dort einen umfassenden Lern- und Gedenkort entstehen zu lassen, der sich mit Zwangsarbeit in Hamburg auseinandersetzt. Wir glauben, dass das »Lagerhaus G« dafür einzigartige Möglichkeiten bietet, aufgrund der Belegung als Frauen-, aber auch als Männeraußenlager und als Lager für italienische Militärinternierte und sowjetische Kriegsgefangene, sodass sich hier die Perspektiven unterschiedlicher Häftlings- und Verfolgtengruppen thematisieren lassen.

Außerdem könnten in einem anderen Teil des Gebäudes Vereine und Initiativen Platz finden, die sich mit gegenwärtigen Formen des Rassismus und anderen erinnerungspolitischen oder damit verwandten Themen beschäftigen. Es könnte hier etwa auch die koloniale Geschichte des Hamburger Hafens thematisiert werden. Wichtig wäre es, dass das Gebäude unter einer Trägerschaft steht, die festlegt, was dort stattfinden kann und was unangemessen ist.

Sie haben sogenannte Offene Laborwochen veranstaltet, wo Besucher/innen gebeten wurden, ihre eigenen Ideen zur zukünftigen Nutzung des Komplexes aufzuschreiben. Einen dieser Beiträge haben Sie auf Ihrer Website veröffentlicht. Dort war zu lesen: »Ich finde, es ist eine sehr schöne Vorstellung, diesen Ort mit gemeinnützigen Projekten zu bespielen, die Menschen wieder zusammenbringen. In meinen Augen ist es sehr wichtig, einen so dunklen Ort zu einem Zufluchtsort zu machen, dabei aber zu gedenken und zu erinnern, was im Lagerhaus G geschehen ist.« Braucht die Hamburger Stadtgesellschaft eine KZ-Gedenkstätte zum Wohlfühlen?

Die Frage, wie man mit solchen Orten umgeht, ist nicht leicht zu beantworten. Der Kommentar zeigt, dass es Diskussionsbedarf gibt. Unser Anliegen wäre es gerade nicht zu sagen: Das muss jetzt ein Ort werden, der die nationalsozialistische Verfolgungsgeschichte darstellt, und dann hat man das aufgearbeitet und geschafft. Neben der Erinnerung an die NS-Geschichte können dort auch Auseinandersetzungen mit Kontinuitäten des NS stattfinden. Wir wollen eben keinen Wohlfühlort schaffen, sondern einen Raum etablieren, an dem eine kritische Reflexion gesellschaftlicher Zustände stattfinden kann.

Interview: Franziska Otto

Die Initiative Dessauer Ufer hat kürzlich eine Broschüre veröffentlicht:
https://initiativedessauerufer.noblogs.org/unsere-nutzungsvision/
Zu ihren Aktivitäten gehören Forschung und Geschichtsvermittlung zum »Lagerhaus G« ebenso wie politische Aktionen und Vernetzungsarbeit mit Akteuren und Akteurinnen der Stadtteil- oder Erinnerungspolitik.

Foto: Saalehafen und Lagerhaus G am Dessauer Ufer in Hamburg, © DorisAntony, via Wikimedia Commons