Zur Verhaftung des ehemaligen RAF-Mitglieds Daniela Klette

Am 27. Februar wurde das ehemalige RAF-Mitglied Daniela Klette in Berlin-Kreuzberg festgenommen. Daniela Behrens, Niedersachsens Innenministerin (SPD), sprach von einem "Meisterstück" und "Meilenstein" der deutschen Kriminalitätsgeschichte, Lamya Kaddor, innenpolitische Sprecherin der Grünen, von einem Erfolg im "Kampf um die freie Welt" gegen "alle ihre Feinde". Dass es in der öffentlichen Berichterstattung zur RAF längst nicht mehr "nur" um die RAF geht, "sondern darum, jeden Gedanken an Rebellion, ... jede Diskussion der notwendigen Mittel politischer Veränderung zu denunzieren und endgültig zu delegitimieren", darüber unterhielten sich Karl-Heinz Dellwo, Jutta Ditfurth, Thomas Ebermann, Hermann L. Gremliza und Thorwald Proll bereits in konkret 03/08.

»Hier ist die Redaktion Sabine Christiansen. Bereuen Sie?«

Ein Gespräch über Rebellion und Verbrechen aus dem Hamburger Polittbüro mit Karl-Heinz Dellwo, Jutta Ditfurth, Thomas Ebermann, Hermann L. Gremliza und Thorwald Proll

Gremliza: Die RAF hat sich vor 10 Jahren aufgelöst. Was treibt die Medien, noch heute mit solch wütender Verbissenheit auf die längst begrabenen oder vergessenen Rebellen einzuprügeln?

Proll: Es liegt ganz praktisch daran, daß da welche noch sitzen. Daß sie noch sitzen, macht den Bürgern ein schlechtes Gewissen. Sie können den Gedanken an Rache nicht ablegen, weil da immer noch jemand ist. Wenn die Bürokratie die Gefangenen sukzessive begnadigt hätte, wie das ja oft geschehen ist, wäre auch dieses Thema irgendwie verschwunden.

Ditfurth: Du hast recht, aber das ist nur ein Teilaspekt. Dieses sogenannte Erinnern hatte seinen Höhepunkt in dem unsäglichen zweiteiligen RAF-Film von Stefan Aust im September vergangenen Jahres in der ARD, in dem man erleben kann, wie Leute, die mal angeblich berührt waren von ’68, ihre Biographie umschreiben und mit der Zeitgeschichte verwechseln. Mir sind zwei Sachen im Gedächtnis geblieben: Zur gleichen Zeit, in der Eva Herman aus wichtigen Gründen aus dem NDR fliegt, tritt der Faschist Horst Mahler, schön ausgeleuchtet und fein geschminkt, als völlig überflüssiger Zeitzeuge in diesem Film von Aust auf und darf sich über Andreas Baaders Charakter auslassen. Und zweitens wird in diesem Film zu den Bildern des sterbenden Benno Ohnesorg behauptet, dieses Ereignis am 2. Juni 1967 sei das erste seit 1945 gewesen, bei dem die westdeutsche Jugend Erfahrung mit der Härte der Polizei gemacht habe. Wohin sind die 22 Jahre zwischen 1945 und 1967 verschwunden? Was ist mit dem 21jährigen Philipp Müller, den Polizisten bei einer Demonstration am 11. März 1952 in Essen erschossen haben? Was ist mit der Geschichte der Revolten, Rebellionen und Repressionen vor 1967? Sie spielen keine Rolle, weil Aust sie nicht erlebt hat. Da verwechselt einer seine Biographie mit der Zeitgeschichte.

Dieses Jahr kommt es noch dicker. Auf der Buchmesse in Frankfurt bin ich zufällig am Stand der »Frankfurter Rundschau« vorbeigekommen, die jetzt dem Alfred Neven DuMont gehört. Dort standen er selber, der CDU-Kulturdezernent aus dem schwarzgrünen Frankfurt, die Kulturamtsleiterin und der neue »FR«-Lokalchef von Neven DuMonts Gnaden. Die vier haben dem staunenden Publikum erklärt, was sie mit der Kampagne zu 1968 in diesem Jahr vorhaben: Die Stadt Frankfurt werde ein »Zentrum des Erinnerns« sein, mit Ausstellungen und Diskussionen mit den üblichen verdächtigen Renegaten, also wohl Reemtsma, Koenen, Kraushaar, sicher aber Cohn-Bendit und Götz Aly, von dem es dazu bald ein Buch geben werde, das – so sagten sie auf der Buchmesse – den »Terror der Sprache der Apo« entlarven werde.

Ich habe inzwischen den Verlagskatalog. Da heißt es: »Götz Aly: Unser Kampf – 1968«. Und dann teilt der Verlag mit: »Götz Aly, selbst in Berlin an heftigsten politischen Kämpfen beteiligt, zeigt nun als Zeitzeuge und Historiker, daß die 68er ihren Vätern« – Mütter haben die nie – »näherstanden als ihnen heute lieb ist. Er zeigt, daß die 68er Bewegung ein Spätausläufer des Totalitarismus war mit einer gewissen Nähe zum Nationalsozialismus, und die Angegriffenen damals oft konfus, aber weit vernünftiger reagierten als die Legende behauptet. Aly zeigt, wie sie« – also die 68er – »vor der geschichtlichen Last des Vaterlandes in die Verherrlichung ferner Guerilleros flohen.« Und zum Schluß: »Die revoltierenden Kinder der 33er-Generation waren ihren Eltern auf elende Weise ähnlich.« Schließlich mit spürbarem Stolz: »Für das Buch sichtete (Aly) noch nie benutzte Akten des
Bundeskanzleramts, des Innenministeriums und des Verfassungsschutzes.« Es ist zu befürchten: unkritisch. Da weiß man, wofür er das Bundesverdienstkreuz gekriegt hat.

In diesem Jahr geht es also nicht »nur« um die RAF, sondern um 1967/68 und darum, jeden Gedanken an Rebellion, jeden Gedanken an Protest, Widerstand und Revolte, jede Diskussion der notwendigen Mittel politischer Veränderung zu denunzieren und endgültig zu delegitimieren. Das ist der Job, den es in diesem Jahr zu erledigen gilt.

Dellwo: Ich kriege einen Anruf: »Hier ist die Redaktion Sabine Christiansen. Bereuen Sie?« Ich sitze da am Schreibtisch, ahne nichts Böses. Ich bin in diesem Fall unflätig geworden, und sie haben dann von einer Einladung Abstand genommen. Ich wäre eh nicht hingegangen. Warum aber machen die so was? Wir sind für die herrschende Klasse immer noch zu gut weggekommen. Wenn Brigitte Mohnhaupt nach 24 Jahren entlassen wird, heißt es, sie werde »vorzeitig entlassen«, so als sei das ein besonderes Entgegenkommen. Christian Klar sitzt seit bald 26 Jahren, und am Schluß wird es heißen, er werde »vorzeitig entlassen«.

Die sind alle davon ausgegangen, daß wir, wenn wir da rauskommen, keine Zähne mehr haben und über die Erde kriechen. Und dann stellen sie fest, es gibt Leute, die am Widerspruch festhalten. Das müssen sie totkriegen. Deshalb diese Psychologisierung. Das Wesentliche an der RAF, gleich welche Fehler sie gemacht hat, ist, daß bei ihr die Absicht zur Revolution zur Tat geworden ist. Es ist nicht nur ein Reden gewesen, es ist nicht nur eine Demonstration gewesen. Es war die Absicht da, den Bruch mit dieser Gesellschaft unumkehrbar zu machen.

Hätte es die RAF nicht gegeben, hätte es die unumkehrbare Entscheidung für den revolutionären Kampf nicht gegeben. Und jetzt geht es darum, diese Entscheidung auszuradieren, denn es war nie das Kennzeichen der deutschen Linken, ihre Absicht mit dieser Vehemenz zur Tat, zum revolutionären Kampf werden zu lassen.

Gremliza: Was wäre angemessene linke Kritik und Selbstkritik dieses Kampfes, und was ist Heroisierung und Apologie der RAF?

Ebermann: Was mich interessiert, ist dieses absolut Überschüssige, das jetzt zu lesen ist. Ich glaube, daß alle, die jetzt 55 oder 60 oder 65 sind und mal links waren, einen unglaublichen Kampf gegen ihr eigenes Ego von damals führen müssen. Und dabei kommt im Regelfall was Überschüssiges raus.

Reemtsma schreibt, die RAF habe bessere Haftbedingungen als sonst irgendein Häftling gehabt. Warum muß er das sagen? Er kann doch sagen, daß er die RAF schlecht fand oder daß es ein Irrweg war oder, meinetwegen, daß er das Wort »Folter« unangemessen findet. Aber das genügt nicht, er muß sagen, die Gefangenen der RAF hätten bessere Haftbedingungen gehabt als sonst irgendein Häftling. Und in der »Jungle World« schreibt ein Uli Krug: »Und glaube niemand, daß die harten Hungerstreiks der ersten RAF-Generation für Hafterleichterungen geführt worden wären. Vielmehr wurde sich zu ihrer Verhinderung totgehungert.«

Ich versuche, das zu analysieren: Nicht mehr gefordert ist das Bekenntnis zu Zielen, Postulaten und Idealen der bürgerlichen Gesellschaft. Gefragt sind jetzt Loyalitätsbekundungen zur Verletzung von Idealen der bürgerlich-demokratischen Ordnung. Die bürgerliche Demokratie definiert sich ja in Abgrenzung zu Diktatur und Faschismus und früher mal zum real existierenden Sozialismus durch ein paar Versprechungen, auf die man – nicht ganz unbegründet, wenn man sie ernst nimmt – stolz ist; der Systemkritiker hat dazu eine eher abschätzige Haltung, aber temporär weiß er einige Ideale und Postulate der bürgerlichen Gesellschaft auch zu schätzen.

Ich nehme zwei davon heraus: Wer verdächtigt beziehungsweise beschuldigt ist, dem wird ein fairer Prozeß versprochen. Das steht so im Gemeinschaftskundebuch. Der Vollzug der Strafe und erst recht die Untersuchungshaft dürfen die physische und psychische Integrität des Gefangenen nicht verletzen. Gegen diese beiden Maximen ist umfassend verstoßen worden. Ein offizieller Gutachter hat festgestellt, daß die Stammheimer Angeklagten dem Prozeß nicht mehr länger als höchstens drei Stunden folgen könnten und es einer mehrmonatigen Prozeßunterbrechung bedürfe, um ihre Zerrüttung durch die Haftbedingungen zu heilen und ihre volle Teilnahme am Prozeßgeschehen zu ermöglichen. Das hat kein Linker gesagt, kein Sympathisant, sondern ein Gutachter. Jutta schildert die Zerrüttung von Ulrike Meinhof, die 300 Tage in absoluter Isolation gehalten wurde. Das kann man nicht als Meinung abtun, sondern durch solche Haft entsteht ein Mensch, der die Fähigkeit verliert, auch nur dreißig Zeilen am Tag zu formulieren. Weit über dreißig Anwälte wurden ausgeschlossen. Typisches Beispiel: Der Anwalt wird ausgeschlossen, durch einen neuen ersetzt, und der Prozeß wird nicht einen einzigen Tag unterbrochen.

Zum bürgerlichen Stolz gehört, daß es keine politischen Prozesse geben darf. Jedem Täter muß seine Beteiligung an der Tat nachgewiesen werden. Im Stammheimer Verfahren mußte gar nichts bewiesen werden: Die Kerngruppe der terroristischen Vereinigung sitzt hier und ist deswegen für alles verantwortlich. Wir haben diesen absurden Vorgang erlebt: Da sagt einer im Fernsehen, der Knut Folkerts, der war das gar nicht, der den Generalbundesanwalt Buback erschossen hat. Und nun sitzt diese bürgerliche Welt auf ihren schönen Urteilen, daß er es war, und der junge Buback sagt, er habe von Boock gehört, der Folkerts war das gar nicht, obwohl er dafür lebenslänglich bekommen hat und jetzt vielleicht in Beugehaft kommt, weil man rauskriegen will, ob er vielleicht unschuldig verurteilt wurde. Das ist die Substanz des Vorgangs.

Einen Anhänger des bürgerlichen Rechts müßte empören, in wie vielen Prozessen politische Vorgaben das Urteil determiniert haben, also einer anderen Logik als der Wahrheitsermittlung unterlagen. In Hamburg ist ein Polizist erschossen worden. Fast so sicher wie man sagen kann, Karl-Heinz Dellwo war in Stockholm dabei, weiß man, wer den Polizisten erschossen hat.

Ditfurth: Gerhard Müller.

Ebermann: Solange es kein Urteil gibt, will ich an der Unschuldsvermutung festhalten. Weil aber Müller ein Kronzeuge war, gab es überhaupt keinen Bedarf, dem Verdacht auch nur nachzugehen.

Ditfurth: Doch, und er wurde freigesprochen, Thomas.

Ebermann: Ich weiß. Das ist der Hintergrund, warum mir manche Prozeßstrategie der RAF so fremd blieb. Ich als alter Leninist kenne das ja so, daß man vor Gericht möglichst versucht, nichts zuzugeben, und der Anwalt versucht, alles zu bestreiten. Wenn Dutschke mit dem Sprengstoff im Kinderwagen geschnappt worden wäre, hätte der Anwalt sagen müssen: Das hat ein Fremder da reingetan. So kenn ich das. Aber das hat ja nur Sinn, wenn die bürgerliche Justiz sich noch an ihre eigenen Prinzipien von Wahrheitsfindung und Täter-Tat-Zuordnung halten will.

Der bürgerliche Staat verspricht auch, daß die Polizei Verdächtige fangen und der Justiz übergeben muß. Es gibt kein: tot oder lebendig. Man sagt nichts Spektakuläres, wenn man feststellt, daß es der Polizei bei Thomas Weißbecker und Georg von Rauch nicht zuerst darum ging, die beiden zu fangen. Um das zu sagen, muß man kein Systemkritiker sein. Was um 1977 gelaufen ist, war kein Faschismus, aber es war die Außerkraftsetzung wesentlicher Ideale der bürgerlichen Gesellschaft, mit denen sie ihre Überlegenheit gegenüber der Diktatur, dem Feudalismus und dem Realsozialismus begründete. Die Debatten, die jetzt über die RAF geführt werden, haben nicht den Grund, nur zu fragen: Stehst du auf der freiheitlich-demokratischen Grundordnung? Sie verlangen eine Loyalitätserklärung zum Ausnahmezustand. Und das ist ein erheblicher Unterschied.

Ditfurth: Ich beschreibe diese kleine Szene: Petra Schelm wird ins Gesicht geschossen, liegt auf der Straße und stirbt. Es kommt kein Krankenwagen, und ein Beobachter, ich glaube, es ist ein »Spiegel«-Redakteur, fragt den Polizisten, der da steht, warum sie keinen Krankenwagen holen, und der sagt zu ihm: »Waren Sie eigentlich schon mal im Krieg?« Er wollte wohl sagen: So haben wir das vor 1945 gelernt, so geht man eben mit Leuten um, die sich widersetzen.

Mir war es öfter schon peinlich, als eine, die ja nun mehr will als die Werte der bürgerlichen Revolution gegen die Bourgeoisie zu verteidigen, die am meisten davon hat, eben dies manchmal tun zu müssen. Das ist mir vor ein paar Jahren zum ersten Mal passiert, und seitdem ertappe ich mich öfter dabei. Und weil es der Bourgeoisie nicht mehr um die Verteidigung dieser Werte geht, müssen die Renegaten jetzt Sonderleistungen erbringen. Es genügt nicht mehr zu sagen: Wir waren auch 68er, aber unser ’68 hieß Uschi Obermeier und nicht RAF. Sondern jetzt muß man den Dreck aufsagen, den der Uli Krug aufsagt, nämlich daß sich die Haftbedingungen auf Ulrike Meinhof deswegen so schlimm ausgewirkt hätten, weil sie seelisch labil gewesen sei. Das muß man sich mal durch den Kopf gehen lassen. Das ist die doppelte Psychiatrisierung des politischen Gegners.

Heute geht es darum, die Entwicklung der herrschenden Verhältnisse zu immer schärferer Ausbeutung und Demütigung zu beschleunigen und jedes dieser Jubiläen als Gelegenheit zu nehmen, der Masse überflüssig gemachter und auszugrenzender Menschen jede Hoffnung so endgültig zu zerstören, daß kein Gedanke an Revolte mehr aufkommt.

Natürlich wissen die Herrschenden, daß es ohne Gewalt, welcher Art auch immer, keine Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse geben kann, sei es zu ihrem Nutzen oder sei es zu dem, was wir dann verwirklichten Humanismus nennen würden. Alle großen Ereignisse, deren Resultate auch das Bürgertum heute zu schätzen weiß, hatten etwas mit Gewalt zu tun.

Dellwo: Ich möchte was anmerken zur Frage der Prozeßstrategie. Wenn man eine Minderheit ist, kann man in bestimmten Dingen nicht taktieren. Deswegen haben wir von Anfang an in diesen Prozessen gesagt, wir erkennen diese bürgerliche Justiz nicht an. Es ist uns egal gewesen, was sie uns gegenüber einsetzen, und es hat uns auch nicht überrascht. Man kann, wenn man seine Unschuld beweisen will, einen Prozeß führen, wie ihn Dimitroff geführt hat. Aber das ist nicht, was die RAF gewollt hatte. Sie wollte nicht ihre Unschuld beweisen, sondern sie wollte einen bewaffneten Kampf führen, und dazu hat natürlich nicht gepaßt, in die Prozesse reinzugehen und zu sagen: Aber der war es jetzt nicht an dieser Stelle, und an jener war es auch ein anderer.

Gremliza: Helmut Schmidt hat der RAF damals übers Fernsehen zugerufen: Sie glauben, die Massen stehen hinter Ihnen. Sie irren sich. Die Massen stehen gegen Sie. Wahr ist aber auch, daß das, was die Springer-Presse »Sympathisantensumpf« genannt hat, so klein nicht war. So gab es, vor allem in der Anfangszeit der RAF, viele Wohngemeinschaften, die beschlossen hatten, Andreas Baader, wenn er darum bäte, Unterschlupf zu gewähren. Das ging bis weit ins linksliberale und ins liberale Lager. Ich gehörte ja damals zu den Denunzianten, ich habe in KONKRET dazu aufgefordert, jeden RAF-Mann, der um Nachtlager bittet, bei der Polizei zu melden. Ich schäme mich heute dessen,worauf, wenn sich in ihrer Biographie etwas dergleichen fände, Aly, Kraushaar, Koenen, Reemtsma, Klug und tutti quanti sicher ganz stolz wären. Und wer hat mir damals bei einem Abendessen in der »Alten Spieluhr« in Eimsbüttel aufs schärfste widersprochen? Der »Spiegel«-Herausgeber Rudolf Augstein: So was komme für ihn überhaupt nicht in Betracht. Ein anständiger Kerl denunziert niemanden.

Was nun die Linken angeht, so hatte die RAF für viele eine Art Stellvertreterfunktion. Sie hatten ein bißchen Marx gelesen, Marcuse, Mao, Guevara, hatten unter die revolutionäre Theorie ihr Häkchen gemacht, hatten allerlei Bekenntnisse zu gewaltsamen Veränderungen skandiert – von »Kapitalismus führt zum Fa-schismus, Kapitalismus muß weg« bis »Haut die Bullen platt wie Stullen« – und freuten sich an denen, die zur Tat schritten. Und die sahen es genauso. Karl Heinz Roth, einer der ersten, der im Knast landete: »Wir haben uns vor radikale Fragen gestellt, nämlich vor die Konsequenz, sein Leben so einzurichten, wie es der politischen Analyse entspricht.«

Das hat natürlich kaum einer geschafft, aber ein Bewußtsein, daß die eigentlich unsere Sache betreiben, war bei vielen gerade der Leute, die heute entdecken, daß die RAF-Leute eigentlich Nazis waren, vorhanden.

Ebermann: Es wurde damals in einem Ausmaß kraß argumentiert, das sich heute ein Mensch, der halbwegs Reputation behalten will, gar nicht mehr leisten könnte. Heinrich Böll zum Beispiel schreibt im »Spiegel« 1971 über die Hetze der »Bildzeitung« gegen Ulrike Meinhof: »Das ist nicht mehr kryptofaschistisch, nicht mehr faschistoid, das ist nackter Faschismus, Verhetzung, Lüge, Dreck.« Und der »Spiegel« hat Böll noch verteidigt, und die »Süddeutsche« auch so ein bißchen.

Sechs Jahre später wird etwas ganz anderes zum Skandal: der Buback-Nachruf. Dieser Nachruf war eigentlich gerade das Einklagen eines bürgerlichen Ideals: Du darfst alles reflektieren, aber nicht alles tun. Das ist ja der Kern der Meinungsfreiheit, nicht? Wir können die falschesten, absurdesten Sachen in Erwägung ziehen, Hauptsache, wir sagen zum Schluß, es war aber nicht so gemeint, daß wir jetzt losziehen und das machen. Und nun passiert folgendes: Der Göttinger »Mescalero«, so nannte sich der Verfasser des Nachrufs, reflektiert, daß er beinahe von einem Gefühl überwältigt worden wäre, als er im Radio vom Tod Bubacks hörte: von klammheimlicher Freude. Dann schreibt er ein paar Sätze auf, was er alles über Buback gehört hat und was den Gedanken nahelegt: Naja, wenn schon einer, dann hat der es besonders redlich verdient. Und zum Schluß kommt er zu der Auffassung, daß er dieses Gefühl in sich niederringen muß, weshalb er einen Aufruf macht, daß so etwas wie die Ermordung Bubacks nicht passieren dürfe, weil da unsere linke Identität oder so etwas verlorengehe.

Der damalige Justizminister Vogel schreibt daraufhin in der »Bildzeitung« unter der Überschrift »Ich lasse nicht zu, daß Buback verhöhnt wird«: »Was jetzt not tut, ist deshalb die volle moralische Solidarisierung mit allen, die auf diesem Gebiet ihre Pflicht tun und die moralische Isolierung aller, die mit Terror und Gewalt noch immer sympathisieren, und sei es auch nur durch ein unterschwelliges Werben um Mitleid oder Verständnis für die Gewalttat.« Das ist das Ende von Intellektualität oder bürgerlicher Meinungsfreiheit.

Um die Geschichte zu Ende zu erzählen: Es gab dann 48 Hochschullehrer und Rechtsanwälte, die den Mut fanden zu sagen, in einer Zeit der Abschaffung von Meinungsfreiheit müsse dieser Aufruf öffentlich zugänglich gemacht werden, wir machen ihn zugänglich und würzen ihn noch mit einem Vorwort und Nachwort – also richtig wie damals in der DDR, ja, ihr dürft Erich Mühsam lesen, diesen alten Anarchisten, aber das Vorwort muß länger sein als der Text. Dann wurde den Unterzeichnern gesagt: Ihr werdet alle eure Hochschullehrerjobs los, es sei denn, ihr unterschreibt eine Treueerklärung für diesen Staat.

Eine Demütigung. Wenn Du das unterschreibst, bist du fertig. Und einer unterschreibt das nicht, das ist Peter Brückner, sondern versucht, die Absurdität zu reflektieren, daß er einen Aufruf kritisch kommentiert, veröffentlicht, der von Morden wie dem an Buback abrät, und wird deshalb nie wieder Hochschullehrer. Das muß jetzt auch legitimiert werden: die Abschaffung der Meinungsfreiheit in der krisenhaft zugespitzten Situation. Woran ich nicht so glaube, ist Karl-Heinz’ Postulat der Unumkehrbarkeit.

Gremliza: Dellwo hat von einer »unzeitgemäßen Kriegsformation« der bewaffneten Gruppen gesprochen. Ist das die politisch notwendige Kritik an der RAF, oder wie hätte eine linke Kritik an ihren Fehlern auszusehen?

Dellwo: In dem Aufsatz, aus dem das zitiert ist, hatte ich geschrieben, daß die RAF nach der Niederlage des westlichen Imperialismus in Vietnam, also des Kriegsimperialismus, in dessen Bekämpfung sie eine Teil-legitimation vermitteln konnte, zur »unzeitgemäßen Kriegsformation« wurde. Im Kontext hier würde ich die Frage anders stellen. Im nachhinein ist klar, die Sache ist gescheitert, es ist auch grundsätzlich was falsch gewesen. Daß sie gescheitert ist, lag auch an uns, es lag auch an euch. Und die Zeit ist nicht reif gewesen.

Gremliza: Nennen wir es mal nicht »Fehler«. Gibt es etwas, was man sich selbst hätte verbieten müssen, was nicht ins Kalkül gezogen hätte werden dürfen?

Dellwo: Da gibt es vieles. Man hätte auch die Frage der Gewalt sicher noch mal anders definieren müssen und man hätte auch nicht sich selber als ausreichende Gegengesellschaft nehmen sollen, die so viel Substanz in sich hat, daß sie alles, was von draußen kommt, ob es von der Linken kommt, selbst wenn es aus den bürgerlichen Kreisen kommt, zurückweisen kann. Das war ein grundlegender Fehler.

Ich sehe heute natürlich viele Dinge vollständig anders, versuche, die Geschichte der RAF zu reflektieren und auch eine wirklich radikale Kritik ranzulassen. Es muß nicht eine einzige Aktion als legitim dastehen. Für mich ist nur wichtig, daß der Aufbruch seine Legitimität besitzt. Das ist das, was ich verteidige.

Das Problem ist doch: Was machen Leute, die einfach nicht mehr in der Lage sind, sich in die gesellschaftlichen Verhältnisse zu integrieren? Was ist mit denen? Wir haben damals sicher viele Fragen nicht beantworten können, aber es war klar, was wir unter keinen Umständen machen werden: Wir werden nicht mit dieser Gesellschaft paktieren, nicht mit ihren alten Klassen und auch nicht mit dem politisch-ökonomischen System, sondern nach unserer Überzeugung handeln: darin kann man nicht leben, und deswegen müssen wir uns draußen hinstellen und versuchen, was anderes zu entwickeln. Das war der Ausgangspunkt. Ich bin ja nicht mit Marxismus aufgewachsen, sondern das Bedürfnis nach einem Trennungsstrich entstand aus einer Inhalation der Gesellschaft.

Thomas hat gesagt, er glaube nicht an das Postulat der Unumkehrbarkeit. Sie ist aber Bedingung jeder revolutionären Bewegung. Das findet man überall, auch Marx hat im Achtzehnten Brumaire davon gesprochen, daß es darum geht, eine Situation zu schaffen, die jede Umkehr unmöglich macht.

Es wird keine Revolution geben, wo das Unumkehrbare nicht das Entscheidende ist. Daß diese Unumkehrbarkeit politisch und sozial als Zukunftskonzept nicht umsetzbar war, sieht man am deutlichsten am Tod in Stammheim. Der entspricht ja einer Haltung und einer Erkenntnis: Es gibt kein Zurück, aber es gibt auch keine Auflösung nach vorne. Und deswegen endet das dann auch im Tod. Das ist das Bittere.

Proll: Die RAF hat gesagt, wir wollen den Staat dazu bringen, daß er seine dämonische Fratze zeigt, und das ist ja geschehen. Und dann schreibt Andreas seinen Brief: Jetzt haben wir die und die Position erreicht, und ihr werdet uns noch lange nicht kriegen, denn wir werden das und das machen und euch nicht zum Opfer werden. Und dann wird mit dem Daumen unterschrieben. Und ein Vierteljahr danach ist es schon vorbei. Wenn man jetzt über revolutionäre Gewalt spricht und über die Revolutionen, die gemacht werden und warum sie gemacht werden müssen: Reformieren kann man nur, wenn man auf gleicher Höhe mit dem Staat ist, und dann macht man die Revolution nicht mehr. Also bleiben Revolutionäre immer draußen und machen so lange, bis was bröckelt, und dann werden die Polizeiwachen überfallen, dann werden die Revolutionäre nicht eingeholt, und schließlich werden große Gruppen der Gesellschaft zu ihnen überlaufen. Also wann hat die Guerilla eine Kraft, die sich in die Bevölkerung einnistet? Sie kann ja nicht immer nur als Polizeigewalt, Verzeihung, als Polizeiformation fungieren und Aktionen machen und die Polizei herausfordern. Sie muß ja irgendwie leben, und sie muß irgendwie bleiben, und sie muß konvertieren können.

Also das will ich Karl-Heinz sagen: Was hat es sonst für einen Sinn, wenn du so was anfängst? Denk an Che. Che geht in dieses andere Land, und dann wird es dort ganz eng, und er muß aus diesem Land verschwinden, weil man den Feind nicht angreifen kann, wenn er viel stärker ist und immer stärker wird. Also muß man sich zurückziehen.

1969, als wir aus dem Knast kamen, war die Situation in Frankfurt so, daß die Macht immer eingeknickt ist, auch bei der Sache mit diesen Erziehungsheimen, dem neuen subproletarischen Milieu der Fürsorgezöglinge, der von ihren Eltern und vom System Verratenen, die wir mobilisieren wollten. Dieses Gefühl, alles ist marode, ihr vernichtet diese Kinder oder ihr gebt ihnen nicht genügend Ausbildung, und das wird alles zugegeben, die sind zu allem bereit, sie nehmen alles zurück – dieses Gefühl muß man erlebt haben. Und dieses Vakuum, diese Potenz, die man fühlt, oder diese Magie, daß die Macht einknickt, daß sie ein schlechtes Gewissen hat. Und jetzt kommen wir und fordern das und die geben das irgendwie in dieser Sache zu. Das muß man erlebt haben, dann kann man auch verstehen, warum diese kommunistischen Guerillaträume entstehen und immer weiter gehen. Die können auch nicht besiegt werden. Aber es hätte dann irgendwie vom Kopf auf die Füße gestellt und eine richtige Praxis gemacht werden müssen. Und dazu waren sie nicht fähig.

Ditfurth: Ja, auch. Wir haben hier verschiedene Themen nebeneinander, die wir alle überhaupt nicht annähernd zufriedenstellend diskutieren können. Ich wollte eigentlich darüber sprechen, wie die staatlichen Repressionen heute – wir erinnern uns ja noch an die Hausdurchsuchungen und Polizeiübergriffe in Hamburg vor dem G 8 in Heiligendamm – mit dem Versuch zusammenhängen, die Rebellion von ’67/ ’68 als Verbrechen zu stigmatisieren. Aber ich beschränke mich und gehe auf ein Thema ein: Man muß mit allen Mitteln den Versuch zurückweisen, die RAF und ihre Mitglieder zu entmenschlichen. Das ist vollkommen klar, das ist das eine. Die Frage ist aber, ob man nicht gleichzeitig auch eine Diskussion über Fehler und über Kritik führen kann. Ich finde, das kann man eigentlich immer. Man sollte dem Versuch nicht ausweichen, gemeinsam klüger zu werden.

Ich komme aus anderen politischen Verhältnissen und habe anders angefangen. Ich war während der Apo Schülerin und kam 1974 aus England zurück nach dem großen Bergarbeiterstreik, der die Regierung gestürzt hatte, was mich natürlich ziemlich beeindruckt hat. Und da fand ich das Land hier ziemlich sonderbar. Und ich fand die Einschätzung der RAF falsch und finde sie, nachdem ich für meine Meinhof-Biographie die ganzen RAF-Texte noch einmal gelesen habe, nach wie vor falsch. Es war falsch, ein sympathisierendes Milieu von Bürgerlichen mit schlechtem Gewissen, von Apo-Leuten, die sich zum Teil 1970 doch lieber massenhaft amnestieren und integrieren ließen, und eine mehrheitlich sozialdemokratisch befriedete Arbeiterbewegung mit einer sozialen Basis für eine Revolution zu verwechseln. Auf das Mitgefühl des Bürgertums war nie Verlaß.

Der andere Fehler war die Einschätzung, was ein revolutionäres Subjekt ist. Da gab es eigenartige Verwechslungen zwischen objektiven Bedingungen und dem Bewußtsein über die Klassenlage. Man sagte sich, die und die Gruppen hätten genug objektive Gründe für eine Revolution, und wenn wir ihnen mit unserer Politik für eine gewisse Zeit voranschreiten, den Konflikt durch den bewaffneten Kampf eskalieren und polarisieren, würde sich ihr subjektives Bedürfnis über ihre Klassenlage beschleunigt herstellen. Gleichzeitig gab es in der Arbeit von Ulrike Meinhof präzise Beobachtungen, wie kaputt das Bewußtsein von Menschen ist, die jahrelang in irgendwelchen Heimen zusammengeschlagen oder sexuell mißbraucht werden. Ihre präzise Kenntnis, wie die Lage von alleinerziehenden, proletarischen Frauen mit Kindern im Märkischen Viertel ist, und auch eine sehr genaue Beobachtung, zu was das führt in der Handlungsfähigkeit dieser Individuen und anderer, denen es ähnlich geht – um dann zu schreiben, daß beispielsweise diese alleinerziehenden Frauen aus dem Märkischen Viertel oder die Heim- und Fürsorgezöglinge einmal die politische Führung übernehmen werden und das relativ schnell, weil man ihnen jetzt zeigt, daß man auf ihrer Seite steht ...

Ebermann: Zu der Meinungsverschiedenheit zwischen Karl-Heinz und mir: Es gibt eine Überbetonung der Form. Von der habe ich keine gute Meinung. Die Überbetonung der Form lautet etwa: Wer zur Waffe greift und dabei riskiert, sein Leben zu verlieren oder viele, viele Jahre im Knast unter scheußlichen Bedingungen zu verbringen, der sei irgendwie besonders unumkehrbar draußen. Das enthebt uns meines Erachtens der Aufgabe, tatsächlich textkritisch mit den Prämissen umzugehen.

Also: Ulrike Meinhof schreibt einige Jahre Artikel. Diese Artikel kann ich lesen, besprechen. Dabei kommt raus, sie ist eine überdurchschnittlich kluge Zeitgenossin und nicht mehr. Sie greift furchtbar in die Scheiße in einzelnen Sachen, also mal verwechselt sie Dresden mit Auschwitz, ist noch ganz in der Rhetorik der illegalen KPD befangen. Mal denkt sie, es sei eine Kritik an Adenauer, daß er ein Hindernis auf dem Weg zur deutschen Wiedervereinigung ist, und argumentiert extrem patriotisch. Dann wieder unglaubliche Hellsicht. Leute schwärmen von ihrer journalistischen Arbeit. Reich-Ranicki sagt in seinem Erinnerungsbuch, es gebe keine Deutsche, die ihn so intensiv und sensibel befragt habe nach seinem jüdischen Schicksal.

Als sie beerdigt wird: schreckliche Reden. Erich Fried: die Rosa Luxemburg unserer Tage. Hör auf, laß stecken, Erich. Es ist alles unbegründet. Ulrike Meinhof hatte keine große theoretische Begabung im Vergleich mit Rosa Luxemburg. Das ist so, macht auch nichts. Den Bruch mit den Ideologien des Bürgertums hat Adorno viel umfassender und präziser vollzogen als diejenigen, die glaubten, der Bruch bestätige sich in der Tatkraft oder in der Avantgardefunktion oder auch in der destabilisierenden Funktion der militanten Tat.

Das fällt jedenfalls zunächst mal auf. Denn es ist ja einerseits ein enormer Bruch, wenn man in die Illegalität geht. Und andererseits kann man sehr im deutschen Denken verhaftet bleiben. Ich, der ich nun wirklich den Ausgangspunkt der RAF nicht im Antisemitismus ansiedele, muß aber doch sagen, stellt euch mal vor – Karl-Heinz wird jetzt sagen, das ist nicht im engen Sinne RAF, aber ich sage, stellt euch mal vor – diese Bomben, die da plaziert wurden in den Räumen der Jüdischen Gemeinde in Berlin, wären hochgegangen. Und es wäre ein erheblicher Teil der Mitglieder der Jüdischen Gemeinde in Berlin umgekommen, und das wäre der erste relevante Bombenanschlag gewesen. Soll ich jetzt sagen, das ist aber eine Demonstration, das die etwas Unumkehrbares eingeleitet haben? Das geht nicht.

Dellwo: Thomas, ich finde das unlauter, richtig unlauter von dir, daß du die Kunzelmann-Aktion an der RAF ansiedelst, während die RAF von ihrer ganzen Konzeption her diese Spontaneisten so kritisiert hat. Du versuchst uns da mit irgend etwas in Verbindung zu bringen. Du kannst ja sagen, daß das in einem linken Kontext passiert ist, das ist ja richtig, da mußt du dich aber selber einbeziehen. Aber du willst sagen, das ist die RAF gewesen ...

Ebermann: Nein.

Dellwo: Doch. Und das ist einfach unlauter.

Ebermann: Ich nehme ein anderes Beispiel, um mich einzubeziehen: Die apologetische Erklärung von Ulrike Meinhof im Namen der RAF zu den Anschlägen bei der Olympiade in München 1972 ist grauenhaft. Und der Artikel, mit dem die Zeitung aufmachte, der ich damals verbunden war – sie hieß damals »Arbeiterkampf« –, ist ebenfalls grauenhaft. Ich argumentiere doch nicht aus der Position von jemandem, der sagt, meine Biographie ist fehlerfrei – eure müssen wir jetzt mal kritisch überprüfen. Darum kann es nicht gehen. Es wurden in KONKRET bis in die achtziger Jahre doch Artikel zu diesem Komplex geschrieben, die Hermann Gremliza heute falsch findet und die teilweise auch schambesetzt sind. Darum kann es doch nicht gehen. Mir ging es um das Argument, daß es über die Militanz ...

Stimme aus dem Publikum: Deine ewige Verehrung für den Adorno! Ich kenne so viele Adorno-Liebhaber, die einen wunderbaren Berufseinstieg über Adorno gekriegt haben. Sag doch mal, wo Adorno sich in irgendeiner Weise fürs kämpfende Individuum eingemischt hat ...

Ebermann: Adorno ist, um was ganz Einfaches zu nehmen, Kritiker der Kategorie »Nation«, und in den Ausgangstexten der RAF lese ich die bedauernde Kritik, daß Deutschland eine faktische Kolonie der USA und um seine nationale Souveränität gebracht sei. Das meine ich. Der eine ist vom ganzen Anspruch her keiner, der sagt, es sei die Zeit, wo wir losmachen müssen, um große Umwälzungen wenigstens zu versuchen, und die anderen, und zu denen zähle auch ich, sind eher tatkräftig, aber dadurch doch nicht unumkehrbar raus aus den Begriffen, aus den Ideologien der bürgerlichen Welt. Das bringt doch gar nichts, wenn wir uns rückwirkend so heroisieren.

Stimme aus dem Publikum: Wenn ich mir die Negative Dialektik angucke, dann habe ich sehr große Probleme, was das mit den Praktiken einer bürgerlichen Gesellschaft zu tun haben soll.

Ebermann: Ja, es ist sehr schwer, mit Adorno praktisch zu werden. Die Frage ist, ob ich an die Arbeit am Begriff überhaupt diesen Maßstab anlegen will oder ob das schon das ist, was es zum Heulen macht. Es kommt mir so vor, als ob du bedeutenden Kritikern bürgerlicher Ideologie und Theorie und Ökonomie permanent über die Schulter guckst und sagst: Ja, und nun muß aber auch bald mal der Satz kommen, welche Praxis daraus folgt. Nein, muß überhaupt nicht.

Karl-Heinz, ich sage nicht, weil etwas gescheitert ist, muß es fehlerhaft gewesen sein. Ich habe mindestens so viel Gescheitertes im Gepäck wie du. Das schließt doch nicht aus, seine theoretische Position und praktische Aktion selbstkritisch zu reflektieren. Du fällst doch im Moment hinter dein Buch zurück.

Dellwo: Ich kann dir sagen, was Ulrike Meinhof gesagt hätte, Thomas. Wenn es wirklich passiert wäre, daß da (in Berlin, d. Red.) tote Juden gelegen hätten, hätte Ulrike Meinhof diese Sache attackiert und denunziert. Auch ich hätte so etwas in meinen dümmsten Zeiten nicht gut gefunden.

Ebermann: Es war eine Zeit, in der fast jeder Linke eine Art Addition vornahm: Vietnam, Algerien, Angola, Mosambik, Guinea-Bissao, Kuba oder, für die Nicht-Moskautreuen, China. Und man sagte, wir sind Bestandteil dieses welthistorischen Prozesses, der den Kapitalismus in eine defensive Situation bringt, vielleicht sogar in eine existentielle Krise. Die Hauptinitiative kommt von der Peripherie, aber wir sorgen dafür, daß ihr kein ruhiges Hinterland mehr habt. Ein durch und durch plausibler Gedanke. In dieser Aufzählung, bei mir wie bei fast allen anderen zu jener Zeit, kommen die PLO oder die Fatah dazu. Ich sage nicht, daß deren Krieg gegen Israel das Ursprungsmotiv war. Aber sie kommen in dieser Addition vor.

In deinem Buch, Jutta, schilderst du, daß da Militante, ob vom 2. Juni oder der RAF ist nicht wichtig für die Argumentation, damit konfrontiert sind, daß ihre palästinensischen Gastgeber klassische Nazisprüche machen. Das ist ein selbstkritisch zu reflektierendes Moment, das ich überhaupt nicht verabsolutieren will. Ich würde doch auch nie sagen, so ein Projekt wie die Hafenstraße war immer mies, weil da mal an der Häuserwand stand »Boykottiert Israel«. Aber zu behaupten, wer zur Waffe greife, stehe außerhalb der bürgerlichen Ideologie – das geht nicht. Wenn Selbstkritik unsere Arbeit verbessern soll, müssen wir immer die Frage stellen, wo und wann wir diesem System oder der deutschen Ideologie noch zu verbunden sind. Wer sagt, ich brauch das nicht, ich war ja in einem Prozeß der Unumkehrbarkeit, ist unfähig zur notwendigen selbstkritischen Reflektion. Das ist meine Überzeugung.

Dellwo: Die Zumutung, die RAF sei ein Formzusammenhang gewesen, der sich nur über die Waffe definiert habe, ohne politischen Inhalt, ohne antiimperialistisches Bewußtsein oder die Suche danach, ohne Versuch, sich von den Verhältnissen, aus denen wir herauskamen, zu emanzipieren, weise ich zurück. Ich habe doch nicht gesagt, die Unumkehrbarkeit sei dagewesen, weil wir zur Form der Bewaffnung gegriffen hätten. Das hatte doch einen bestimmten Inhalt. Es hat doch einen Inhalt gegeben, um den wir gekämpft haben, und diesen Inhalt wollten wir mit der Waffe unumkehrbar machen.

Ditfurth: Es ist einfach nicht wahr, daß – wie Thomas sagt – Ulrike Meinhof Dresden mit Auschwitz verwechselt hat. Damit unterstellt er, daß ausgerechnet sie nicht um die Bedeutung von Auschwitz gewußt habe. Man kann ihr aber vorwerfen, daß sie Auschwitz und Dresden miteinander verglichen hat. Und ob Ulrike Meinhof nun eine »begabte« Theoretikerin war oder nicht, werden wir erst dann beurteilen können, wenn ihre Erben nicht mehr verhindern, daß alle Meinhof-Texte bis 1976 veröffentlicht werden. Wobei ich »Begabung« ’ne ziemlich absurde Kategorie finde.

Thomas hat Ulrike zitiert, die das Attentat des Schwarzen September auf die israelische Olympiamannschaft in München verteidigt. Warum hat sie das getan? Teile des Textes sind scharf zu kritisieren, weil sie antisemitisch sind. Die Gründe, warum sie einen solchen Text geschrieben hat – einen ähnlichen hat sie übrigens nie wieder verfaßt –, sind ziemlich vielschichtig. Sie hatte die PLO und die El Fatah in Jordanien 1970 als Freunde und als Opfer des Nahostkriegs kennengelernt. Fast alle diese Leute starben in den Luftangriffen im Schwarzen September von 1970. Ulrike Meinhof saß, als sie den Text im November 1972 schrieb, seit fünf Monaten in absoluter Isolationshaft in der Männerpsychiatrie der Justizvollzugsanstalt Köln- Ossendorf und litt unter sensorischer Deprivation. Ulrikes Texte waren Kampfesgrüße und keine Vernichtungswünsche, dazu sollten sie heute nicht verdreht werden. Sie war keine Antisemitin. Es gab Streit unter den Gefangenen über diesen Text. Ulrike Meinhof hat sich danach zum xten Mal in ihrem Leben intensiv mit der Geschichte Israels und des Judentums befaßt. Das ist ein viel komplexerer und tragischerer Zusammenhang als die platte Rede vom Antisemitismus unterstellt.

Hier sitzen ja drei Leute, Thomas, Hermann und ich, die mal zur Gruppe »Radikale Linke« gehört haben. Und ich weiß, wie wir uns 1989 den wunderschönen Slogan »Nie wieder Deutschland« ausgedacht haben. Aus dieser antideutschen Radikalen Linken ist aber inzwischen auch eine reaktionäre, sich antideutsch nennende Perversion hervorgegangen, zu der auch der vorhin zitierte Autor der »Jungle World« gehört.

Ich finde, wir müssen beides hinkriegen: Wir müssen sagen, daß es in der Linken, nicht nur in der RAF, Antisemitismus gab. Und wir müssen die Attitüde des reuigen Sünders meiden, der behauptet, die Linken seien prinzipielle Feinde Israels gewesen und keiner habe je Jean Améry gelesen. Das ist einfach Bullshit. Wozu diese angeblich antideutschen Neureaktionäre nützlich sind, ist die Stigmatisierung von sozialem Widerstand als antisemitisch oder islamistisch. Das dürfen wir nicht auch noch tun. Wir müssen in den eigenen Reihen da
zuschlagen, wo es Antisemitismus tatsächlich gibt, aber diesen Vorwurf nicht als Raster der Gegenseite übernehmen mit völlig anderen Intentionen.

Ulrike Meinhof hat 1967 einen hervorragenden Text zum Sechstagekrieg geschrieben, über die deutschen Freunde, die Israel da plötzlich kriegte – der »Spiegel« und andere Zeitungen hatten Moshe Dayan mit Hitlers General Rommel verglichen und wollten den Zweiten Weltkrieg im Nahen Osten nachträglich gewinnen. Wie konnte sie nur sechs Jahre später, im Knast, so einen Text schreiben wie den zum Schwarzen September? Was muß da zwischendurch passiert sein? Natürlich muß man die Teile des Textes, die sich auf Israel beziehen und auf das Attentat in München, auseinandernehmen. Trotzdem muß man erklären, woher das kommt, und darf nicht sagen, dieser Text erklärt alles.

Vielleicht ist das ein bißchen größenwahnsinnig, aber ich finde, daß die Zeit gekommen ist, beides gleichzeitig zu machen: eine vernünftige linke Kritik dessen, was linke Geschichte insgesamt, und nicht nur die RAF betreffend, ist, auch anderer massenhafter Fehler, die viele von uns irgendwann begangen haben, ohne darüber ein Bußeverhalten einzuüben und nur noch mit gebeugtem Rücken zu gehen, sondern daraus klüger zu werden für kommende Kämpfe. Dazu gehört, eine Grenze zu ziehen zu dieser Sorte neuer Reaktionäre, von denen der Uli Krug ja nur eine Randfigur ist.

Ich hätte heute Abend gerne ein bißchen über die sogenannte Gewaltfrage diskutiert, schade. Ich will euch wenigstens zum Schluß ein kleines Gespräch zwischen zwei sehr alten Leuten vorlesen, eine Passage, die mich immer wieder entzückt. Sie stammt aus einem Film von 1988 über Rudi Dutschke. Die beiden alten Leute sitzen in einem Zimmer und streiten über Gewalt: »Also ich glaube«, sagt Karola Bloch, »daß man ganz ohne Gewalt bestimmt nicht auskommt.« Sie sitzt da ganz nonchalant, raucht Kette. »Selbstverständlich bin ich für
Gewalt, nicht nur gegen Sachen, sondern gegen solche Menschen, die dem Fortschritt schaden. Da habe ich gar keine Skrupel«, fährt die 83jährige Jüdin und Kommunistin fort und sagt in ihrer wunderschönen Sprache: »Da bin ich zu sehr als Revolutionärin aufgewachsen. Ohne Gewalt wäre ja keine Revolution gelungen.« Sie zuckt ein bißchen mit den Schultern, weil es doch so selbstverständlich ist. Neben ihr sitzt, etwa gleich alt, der 80jährige Helmut Gollwitzer, christlicher Sozialist. »Also«, sagt er etwas zögerlich nach dieser mit Verve vorgetragenen Position, »also als Jünger Jesu ...« – Karola Bloch scharf: »Als was?« – »Als Jünger«, Gollwitzer versucht fortzufahren, »als Jünger Jesu von Nazareth ...« – »Aha«, sagt Karola Bloch und zieht kräftig an ihrer Zigarette, ironischer Augenaufschlag, als könne sie nicht fassen, daß der alte Freund so dämlich ist.

Proll: Ja, sicher. Aber zu deinen neuen Kämpfen, Jutta: Man kann die Bastille nur einmal stürmen, nicht jeden Tag.

 

Karl-Heinz Dellwo: Das Projektil sind wir – Der Aufbruch einer Generation, die RAF und die Kritik der Waffen. Edition Nautilus, Hamburg 2007, 224 Seiten, 14,90 Euro

Jutta Ditfurth: Ulrike Meinhof. Die Biographie. Ullstein, Berlin 2007, 420 Seiten, 22,90 Euro

Thomas Ebermann/Rainer Trampert: »Bitteres Vergnügen – Eine satirische Lesung«. konkret texte 45 (CD), Hamburg 2008, 15 Euro

Thorwald Proll/Daniel Dubbe: Wir kamen vom anderen Stern. Über 1968, Andreas Baader und ein Kaufhaus. Edition Nautilus, Hamburg 2003, 128 Seiten, 9,90 Euro

 

Die Veranstaltung »Rebellion und Verbrechen« fand am 20. Januar 2008 im Hamburger Polittbüro statt.