Alles wie gehabt
Christian Y. Schmidt über die Kehrtwende in der chinesischen Corona-Politik
Am 7. Dezember 2022 kam die Wende in der chinesischen Null-Covid-Politik. Die Behörden kündigten überraschend an, dass von nun an die Testpflicht deutlich reduziert werden und Lockdowns nur noch sehr eingeschränkt verhängt würden. Die wohl entscheidendste Änderung war, dass kein negativer Test mehr verlangt wurde, um öffentliche Einrichtungen zu betreten. Damit war der Weg für das Virus bereitet, sich explosionsartig auszubreiten. Bereits in den ersten drei Dezemberwochen, so eine Schätzung der chinesischen Nationalen Gesundheitskommission (NHC), haben sich rund 250 Millionen Menschen im ganzen Land mit dem Corona-Virus infiziert.
Genauere Daten sind momentan nicht erhältlich, denn am 15. Dezember stellten die Behörden die Veröffentlichung von asymptomatischen Infektionen ein. Am 25. Dezember verkündete die NHC schließlich, ab sofort auch die Zahl der täglichen Corona-Erkrankungen und -Toten nicht mehr zu veröffentlichen. Bereits zuvor hatte man erklärt, nur noch diejenigen als Corona-Tote zu zählen, die nachweisbar einem Lungenleiden erlegen waren. Damit ist die bis dato recht zuverlässige chinesische Corona-Statistik unbrauchbar geworden. Logische Folge dieser radikalen Wende war die völlige Aufhebung von Quarantänepflicht und Einreisebeschränkungen für chinesische Staatsbürger, für Verwandte von Bewohnern Chinas sowie für Geschäftsreisende ab dem 8. Januar 2023, der wohl über kurz oder lang auch die Öffnung des Landes für Touristen folgen wird.
Bemerkenswert ist nicht nur diese einschneidende Wende der chinesischen Regierung, die über Nacht eine fast drei Jahre lang verfolgte Politik in ihr Gegenteil verkehrte. Auch die westlichen Medien änderten von einem Tag auf den anderen ihre Einschätzung dieser Politik. Hatten sie noch kurz zuvor die chinesischen Maßnahmen als »Horror-Lockdowns« (»Berliner Morgenpost«) oder »Albtraum« (»Tageszeitung«) bezeichnet, und sich wenig später vehement auf die Seite der Demonstranten geschlagen, die die Abschaffung der Maßnahmen (»Virus der Freiheit«, »Spiegel«) forderten, begannen sie exakt in dem Moment diese Forderungen zu denunzieren, als die chinesische Regierung nachgab und anfing, sie umzusetzen: »Xis Corona-Kehrtwende: Dieser Starrsinn stürzt China in die Katastrophe«, titelte die Nachrichtenseite von »T-Online« am Tag vor Heiligabend. Andere Mainstreammedien schrieben von »Corona-Horror« (»Bild«), »Covid Chaos« (»Spiegel«), »Desaster« (ntv) oder – wie gehabt – von »Corona-Albtraum« (»Berliner Morgenpost«).
Allerdings brachte die überstürzte Beendigung nahezu sämtlicher Null-Covid-Maßnahmen tatsächlich schwerwiegende Probleme mit sich. Das lag hauptsächlich daran, dass sich die Impfquote bei den chinesischen Risikogruppen zu diesem Zeitpunkt auf einem zu niedrigen Niveau befand. Zwar reichen drei Impfungen mit chinesischen Totimpfstoffen wie SinoVac meist aus, um schwere Verläufe und den Tod zu verhindern. Doch waren am 14. Dezember 2022 nach offizieller chinesischer Statistik nur 69,8 Prozent der über Sechzigjährigen und lediglich 42,4 Prozent der über Achtzigjährigen dreimal geimpft. Für die niedrige Quote gab es ein ganzes Ursachenbündel. Der wichtigste Grund: Ein generelles Misstrauen älterer Chinesen gegenüber Impfungen.
Geholfen hätte gegen diese Impfskepsis wohl nur die Einführung einer allgemeinen Impfpflicht. Tatsächlich hatte zumindest die Pekinger Lokalregierung versucht, Anfang Juli 2022 für das Stadtgebiet eine solche zu verordnen, kam damit aber nicht durch. Nach heftigen Online-Protesten nahm sie drei Tage später ihre Anordnung wieder zurück. Trotz solcher Widerstände hätte die Zentralregierung größere Anstrengungen unternehmen müssen, die vulnerablen Gruppen zu überzeugen, sich auch ein zweites und drittes Mal impfen zu lassen.
Auch wäre es wohl klüger gewesen, die Maßnahmen langsamer beziehungsweise nach Regionen gestaffelt zurückzufahren, um Intensivstationen respektive Krankenhäuser zu entlasten. Dass dies alles nicht geschah, ist eigentlich nur dadurch zu erklären, dass die Regierung keine weiteren Proteste riskieren wollte. Das befreit sie allerdings nicht von ihrer Verantwortung. Klar ist, dass durch das abrupte Aufkündigen der Null-Covid-Politik mehr Menschen schwer erkrankt und gestorben sind, als nach heutigem Stand der Wissenschaft hätten erkranken oder sterben müssen.
Das ist jedoch kein Grund für westliche Politik und Medien, sich über China zu erheben. Denn selbst nach der überstürzten Einstellung der Corona-Maßnahmen wird das Land am Ende höchstwahrscheinlich deutlich besser durch die Pandemie gekommen sein, als das Gros der westlichen Staaten: Die unabhängige britische Gesundheitsdatenfirma Airfinity publizierte am 29. Dezember 2022 eine – am 6. Januar 2023 ergänzte – Studie, die etwa 1,7 Millionen Corona-Tote bis zum Ende der jetzigen Welle in China prognostizierte.
Diese Studie wurde zwar mit ihren Zahlen auch von vielen deutschen Medien – von »Spiegel« bis »Tagesschau« – zitiert, allerdings ohne diese Zahlen ins Verhältnis zur deutschen Corona-Statistik zu setzen. So waren in Deutschland bis Anfang Januar 2023 mehr als 162.000 Menschen an Covid-19 gestorben; etwa 0,2 Prozent der Gesamtbevölkerung von 84 Millionen. Umgerechnet auf die chinesische Bevölkerung von 1,4 Milliarden wären das 2,8 Millionen Tote. Das bedeutet, dass in China 1,1 Millionen Menschen mehr gestorben wären, hätte man dort Corona nach deutschem Vorbild bekämpft. Im Vergleich zu den USA, wo mehr als 0,3 Prozent an Corona starben, steht China mit einer Quote von 0,12 sogar noch besser da.
Dieses Verhältnis kann zwar nicht die Versäumnisse der chinesischen Regierung im Zuge der Beendigung von Null-Covid entschuldigen, relativiert aber das von den westlichen Medien behauptete chinesische Corona-Desaster. Die Reaktion der westlichen Medien angesichts der chinesischen Corona-Wende zeigt einmal mehr, dass sie sich eher als Kampforgane gegen einen »systemischen Rivalen« (Auswärtiges Amt) verstehen denn als neutrale Berichterstatter. Alles wie gehabt also.
Gekürztes und umgeschriebenes Nachwort aus Corona Tests Beijing – Neunundsechzig Massentests in China, das als letzter Teil der Corona-Trilogie von Christian Y. Schmidt diesen Monat in streng limitierter Auflage im Berliner Hybriden-Verlag erscheint.
Christian Y. Schmidt lebt in Peking und Berlin