Die Schweinemarktfrau
Ein Porträt der neuen britischen Premierministerin Liz Truss und ihrer uralten Ideen. Von Bernhard Torsch
Derzeit kursiert in den sozialen Medien ein Video, das eine Rede von Mary Elizabeth »Liz« Truss zeigt. Die damalige Umweltministerin hielt sie auf einem Parteitag ihrer Tories im Jahr 2014. Mit einem derangierten Grinsen im Gesicht sagt Truss: »Ich fliege im Dezember nach Peking, um neue Schweinemärkte zu eröffnen.« Danach folgt ein bizarrer Rant gegen die Essgewohnheiten der Briten, der in dem empörten Ausruf gipfelt: »Wir importieren zwei Drittel unseres Käsebedarfs. Das … ist … eine … Schande!«
Truss wirkt in dem Video verhaltensgestört und exzentrisch und nach dem Maßstab früherer politischer Sitten für ein hohes Amt untauglich. Aber danach folgten Brexit und Boris Johnson in Großbritannien und Donald Trump in den USA, was die Grenzen der politisch überlebbaren Schamlosigkeit ins Unendliche verschob. Und so konnte die Schweinemarktfrau im September dieses Jahres Chefin der britischen Konservativen und mithin neue Premierministerin des Vereinigten Königreichs werden.
Sie werde, kündigte sie vor ihrer Wahl zur Parteichefin an, sämtliche EU-Regeln, die Arbeitnehmerrechte schützen, auf dem Scheiterhaufen verbrennen. Besonders die Beschränkung der Wochenarbeitszeit auf 48 Stunden will die Konservative final beseitigen. Ebenso auf ihrer Abschussliste: das Recht auf Arbeitspausen, gleiche Bezahlung für Frauen, Schutz für Menschen mit Behinderungen, Urlaubsansprüche, Gleitzeit und alles andere, was den Anschein erweckt, man lebe im 21. Jahrhundert statt im Viktorianischen Zeitalter.
Dorthin zurück ist der Weg nicht mehr weit. Dank des segensreichen Wirkens der Tories in den vergangenen 14 Jahren verdienen britische Arbeiter heute rund 20.000 Pfund weniger pro Jahr als noch 2008. Laut Berechnungen der OECD beträgt der monatliche Reallohnverlust der Briten derzeit 6,2 Prozent, was die schlechteste Relation von Einkommen und Inflation in den G7-Staaten ist. 31 Prozent aller Britinnen und Briten leben unter der Armutsgrenze, ein doppelt so hoher Prozentsatz wie in Deutschland. Und das alles, obwohl in Großbritannien laut offiziellen Zahlen 1,3 Millionen Stellen derzeit nicht besetzt werden können, was einiges über die Schwäche der Gewerkschaften und das Komplettversagen von Labour als Opposition aussagt: Ein derartiger Arbeitskräftemangel müsste die Verhandlungsposition der Arbeiter eigentlich stärken.
Truss weiß, wer am Elend der britischen Arbeiterklasse schuld ist: die Arbeiterinnen und Arbeiter. Die gehörten nämlich zu den »faulsten der Welt«, schrieb Truss einst zusammen mit Dominic Raab, Kwasi Kwarteng, Priti Patel and Chris Skidmore in dem Buch Britain Unchained. Wer glaubt, Truss’ Haltung habe sich seit Erscheinen des Werks im Jahr 2012 geändert, irrt – obwohl sie verzweifelt versucht, sich davon zu distanzieren. In einer jüngst geleakten Audioaufnahme hört man Truss sagen, die Briten seien »hartes Malochen« nicht mehr gewöhnt und außerdem schlechter ausgebildet und motiviert als ihre »asiatischen Konkurrenten«.
Truss’ erste Handlung als Premierministerin bestand – was viele überraschte – darin, die Energiepreise bei rund 2.500 Pfund pro Jahr und Haushalt einzufrieren. Die circa 100 Milliarden Pfund teure Maßnahme wird aber nicht etwa mittels Steuern auf die enormen Profite der Energiekonzerne finanziert, sondern aus der Staatskasse. Die Briten bezahlen sich die Begrenzung der Energiekosten also selber. Das werden sie erst später merken.
Tätig werden musste Truss jedoch. Die britische Energieregulierungsbehörde Ofgem berechnete im August, dass 8,3 Millionen britische Haushalte im kommenden Winter unter Energiearmut leiden, also mehr als zehn Prozent ihres Einkommens für Strom und Heizung ausgeben werden. Das ist ein Anstieg um 1,5 Millionen Haushalte in wenigen Monaten. Eine Studie der Universität von York geht von 45 Millionen Briten aus, die sich im kommenden Winter zwischen Heizung und Nahrung entscheiden müssen.
Eine Deckelung der Energiekosten mag also zunächst populär sein, denn wer denkt schon an die langfristigen Folgen, wenn er friert? Diese Folgen aber werden in einer furchtbaren Verwüstung der Reste des britischen Sozialstaates bestehen. Die Regierung Truss weigert sich nicht nur, die Energiekonzerne angemessen zu besteuern, sondern schnürt auch ein großes Steuersenkungspaket, von dem – es regieren Konservative – die Reichsten mehr als doppelt so viel profitieren werden wie die Ärmeren. Der Staat soll also mit weniger Steuereinnahmen mehr ausgeben, was natürlich nur funktioniert, indem er anderswo »spart«.
Ob Truss’ Rechnung, die Briten würden auch künftig jede Schweinerei lethargisch ertragen, aufgehen wird, ist keine ausgemachte Sache. Manches spricht dafür, etwa die Eiseskälte, mit der die britische Gesellschaft den »ökonomischen Mord« (University College London) an laut Schätzungen 250.000 Menschen hinnimmt, die seit 2008 wegen der Kürzungen im Sozial- und Gesundheitswesen starben. Das staatliche Gesundheitssystem NHS wurde derart heruntergespart, dass es kurz vor dem Zusammenbruch steht. In einigen Regionen Großbritanniens dauert es Stunden, bis die Ambulanzen auf akute Notfälle wie Herzinfarkte reagieren.
Gegen eine abermalige Duldsamkeit der britischen Untertanen spricht, dass im Königreich eine Wut brodelt wie seit Jahrzehnten nicht. Die Gewerkschaften kündigen vor allem in den Bereichen Gesundheit, Bildung und Infrastruktur immer häufiger Kampfmaßnahmen gegen die unzumutbar gewordenen Arbeitsbedingungen und Hungerlöhne an. Sie können laut Umfragen mit der Solidarität einer Mehrheit der Bevölkerung rechnen.
Bisher kam die Tory-Regentschaft damit durch, jeden Widerstand der Bürger mit Hilfe der Murdoch-Presse auszusitzen. Hilfreich war bislang auch, dass die Labour-Partei sich in identitätspolitischen Stellvertreterkriegen verausgabt, statt die Kriegserklärung im tödlichen Klassenkampf von oben endlich anzunehmen. Es bleibt abzuwarten, ob das altbewährte Rezept der Konservativen auch diesmal wirken wird.
Bernhard Torsch schrieb in konkret 9/22 über die Pläne der Bundesregierung für den Gasnotstand