Offene Rechnungen

Von der Zerstörung sowjetischer Denkmäler bis zur Ablehnung polnischer Reparationsforderungen – Rolf Surmann über praktische Konsequenzen des Geschichtsrevisionismus

Ende August wurde in Riga das   »Denkmal für die Befreiung Sowjetlettlands« – ein fast 80 Meter hoher Obelisk – gesprengt. Cancel Culture auf Lettisch. Westliche Medien wie die »FAZ« erklärten, dies sei eine Auswirkung des Ukraine-Kriegs. Mag sein, dass die Gelegenheit für eine solche Sprengung im Augenblick günstig ist, doch ist der Ukraine-Krieg keineswegs der Grund dafür. Denn  schon seit vielen Jahren wird in Lettland versucht, die Erinnerung an die Befreiung von der Nazi-Okkupation, wie sie im Nachbarschaftsabkommen mit Russland ausgehandelt wurde, umzustrukturieren und letztlich ganz zu beseitigen.

Damit steht Lettland nicht allein. Die anderen baltischen Staaten Litauen und Estland betreiben eine ähnliche Politik. In der Uno stellt Russland zudem Jahr für Jahr einen Antrag, der neben der Verurteilung einer Geschichtspolitik, die die bekannten ukrainischen Polen-, Russen- und Judenverfolger ehrt, auch die Bewahrung der Erinnerung an den Sieg über Nazi-Deutschland und seine osteuropäischen Kollaborateure fordert. Außer der Ablehnung seitens der USA und der Ukraine selbst stimmen die meisten Staaten bei Enthaltung des überwiegenden Teils des westlichen Lagers für diesen Antrag. Der Ukraine-Krieg hat deshalb nicht zur Entstehung dieses revisionistischen Geschichtsbilds geführt, wohl aber zu seiner rigideren Ausprägung. 

Ganz im Sinne dieses Geschichtsbilds äußerte sich auch der lettische Staatspräsident Egils Levits, als er historisch weiter ausholte und den Abriss des Denkmals mit den Worten begründete, es entspreche nicht den lettischen »Werten«, weil es die sowjetische Okkupation verherrliche. Nun mag aktuell alles, was gegen Russland gerichtet ist, willkommen sein. Doch in den nach 1945 entstandenen zeitgeschichtlichen Konsens reiht sich Levits damit nicht ein. Denn was er als lettische »Werte« präsentiert, ist die Neuauflage des alten Gemischs aus Nationalismus und Faschismus-affinem Autoritarismus, wie es in dem Verbot aller Parteien Mitte der dreißiger Jahre und 1939 im Abschluss des ideologisch motivierten Nichtangriffspakts mit Nazi-Deutschland durch den lettischen  Staatspräsidenten Karlis Ulmanis zum Ausdruck kam.

1993 avancierte ein jüngeres Mitglied seiner Familie, Guntis Ulmanis, die Tradition seiner Familie symbolisch fortsetzend, zum ersten Staatspräsidenten Lettlands. Das politische Bestreben blieb, wenig überraschend, dasselbe: Frontstellung gegen Russland in einer Weise, in der die Sowjetunion unter Verweis auf den Molotow-Ribbentrop-Pakt gemeinsam mit Deutschland zum Verursacher des Zweiten Weltkriegs erklärt wurde und man die nazistischen Verbrechen mit sowjetischen gleichsetzte. Wie in den Visegrad-Staaten kulminierte das lettische Geschichtsverständnis schließlich in der Forderung, parallel zum internationalen Holocaust-Gedenktag am 27. Januar den 23. August als Tag der Unterzeichnung des deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrags als antitotalitären Gedenktag für die Opfer von Stalinismus und Nazismus einzuführen, der das Europäische Parlament 2009 nachkam. 

Selbstverständlich haben Länder wie Lettland als in der Geschichte oft geschundene Anhängsel der Großen das Recht, erfahrenes Unrecht zu benennen und nach Kräften sicherzustellen, dass sich dergleichen nicht wiederholt. Doch setzt dies voraus, dass die Probleme der Zeit erfasst, der eigene Anteil an den Ereignissen erkannt und zur Lösung beigetragen wird. Hierzu gehört auch das Begreifen der weltgeschichtlichen Leistung der Niederringung des Nazi-Regimes, verbunden mit der Bereitschaft zur Ehrung der beteiligten Menschen. Ist man hierzu nicht bereit oder in der Lage, fehlt eine wesentliche Voraussetzung für die Zukunft jenseits faschistisch-nazistischer Verbrechen. Ein ganz anderer Sachverhalt scheint in dem Umstand zum Ausdruck zu kommen, dass Polen am 1. September, dem 83. Jahrestag des deutschen Überfalls, in einer dreibändigen Untersuchung auf 1.200 Seiten minutiös dokumentiert hat, dass Deutschland durch Krieg und Besetzung Schäden von umgerechnet 1,3 Billionen Euro im Land angerichtet hat. Die Forderung nach entsprechenden Reparations- und Entschädigungsleistungen ist die Konsequenz. Schroff ablehnend reagierte darauf der deutsche Botschafter in Warschau mit der Behauptung, Polen stelle »die friedliche Ordnung in Frage, die wir in der Europäischen Union aufgebaut haben«. Das ist beinahe eine Kriegsdrohung, faktisch dürften eher wirtschaftliche Repressionen im Rahmen der EU erwogen werden.

Etwas zurückhaltender äußerte sich die Bundesregierung, indem sie – wie immer – behauptete, das Thema der aus dem Zweiten Weltkrieg resultierenden Kompensationsleistungen sei abgeschlossen. Das sieht zwar nicht nur Polen anders, doch klar ist, dass   diese Gesellschaft unter keinen Umständen bereit ist, den Forderungen nachzukommen. Dabei beruft man sich auf strittig interpretierte Abkommen, Verträge und Urteile. Ausschlaggebend ist letztlich Deutschlands wirtschaftliche und politische Macht. 

Der polnische Regierungschef Mateusz Morawiecki setzte dagegen, ohne Wahrheit und ohne Schadensersatz seien keine normalen Beziehungen möglich. Damit hat er die Auseinandersetzung auf eine grundsätzliche Ebene gehoben. Genau dort gehört sie hin. Denn was auch immer unter welchen Bedingungen an Papieren unterzeichnet oder nicht unterzeichnet worden ist, täuscht nicht darüber hinweg, dass die polnischen Forderungen, gemessen an den von Deutschland begangenen Verbrechen, legitim sind. Die Anerkennung dieser Tatsache verweigert die Bundesregierung jedoch beharrlich. Sie versucht seit Jahrzehnten, sie durch eine Serie von großen und kleinen Coups, die ihr im Laufe der Jahrzehnte gelungen sein mögen, zu ersetzen. Damit demonstriert sie die anhaltende Weigerung, ihrer Verantwortung nachzukommen. 

Zwei Schlussfolgerungen lassen sich ziehen: Erstens ist diese Welt des selbst proklamierten Fortschritts mehr als achtzig Jahre lang nicht in der Lage gewesen, Faschismus und Nazismus angemessen aufzuarbeiten, mit der Folge, dass diese selbst noch in die Gegenwart hineinwirken. Zweitens wird, wie das Beispiel Riga zeigt, im Westen ein kritisches Geschichtsverständnis fortschreitend  aus der gesellschaftlichen Diskussion entfernt. Heute stehen wir deshalb nicht etwa   vor nachholenden Aufarbeitungsbemühungen, sondern an einem von einem neuen europäischen Krieg begleiteten Wendepunkt des Postfaschismus. Während die alten Rechnungen noch nicht bezahlt sind, werden die neuen schon geschrieben.

Rolf Surmann schreibt auf S. 36 über den deutschen Umgang mit kolonialem Raubgut