»Deutsches Haus«

»Deutsches Haus«

TV-Serie in fünf Teilen. Deutschland 2023. Regie: Isa Prahl, Randa Chahoud; mit Katharina Stark, Anke Engelke, Hans-Jochen Wagner. Seit 8. November bei Disney Plus

Im Anfang war das Wort. »Wir haben uns vorgenommen«, verrät »Deutsches Haus«-Drehbuchautorin Annette Hess, »mit Zärtlichkeit vom Unfassbaren zu erzählen.« Gemeint ist jenes »Unaussprechliche«, mit dem sich die Deutschen 1963 im Zuge des ersten der von Fritz Bauer initiierten Frankfurter Auschwitz-Prozesse aus heiterem Himmel konfrontiert sahen und ihr Auskommen finden mussten.

Das »verlogene Schweigen im Nachkriegsdeutschland« (»Neue Zürcher Zeitung«) steht jedoch allenfalls vordergründig im Zentrum der Serie. Bei Licht betrachtet, fungiert es in erster Linie als Negativ für das, worum es eigentlich geht: die Unwissenheit und den ersehnten Neuanfang, den sie ermöglicht. Und für den steht seit der Genesis Eva. In diesem Fall Eva Bruhns (Katharina Stark), um die sich in der Serie, ungeachtet des heillosen Gewusels an Haupt- und Nebenfiguren, alles dreht.

Eva, Anfang zwanzig und kurz vor der Heirat stehend, ist im »Deutschen Haus« – sowohl im titelgebenden Gasthaus ihrer Eltern wie in der Serie selbst – nicht nur im einzig möglichen, nämlich schlechten Sinn das »Mädchen für alles«, sondern auch die personifizierte Unschuld: naiv, unbedarft, mit großen Augen staunend in die Welt blickend. Eva weiß wirklich von nichts – bis ihr unversehens Erkenntnis und Sprache zuteil werden.

Wie die Jungfrau zum Kinde kommt Eva an die Stelle als Dolmetscherin im Auschwitz-Prozess. Sie soll die Zeugenaussagen der Überlebenden aus dem Polnischen übersetzen und so den Deutschen übermitteln, wovon die, was dem Rezipienten unablässig eingehämmert wird, nichts hören wollen.

Ein dramaturgischer Kniff der Serie ist, dass Eva sich auch mit ihrem ganz persönlichen »Sündenfall« auseinandersetzen muss. Als Kind lebte sie mit ihrer Familie (was ihr aber erst im Laufe der Serie bewusst wird) auf dem Gelände des Vernichtungslagers Auschwitz, weil ihr Vater als Koch im dortigen Casino angestellt war. Was Eva, die sich nun selbst auf der Täterseite wähnt, subjektiv als Schuld erlebt, kann und soll der Zuschauer schwerlich als faktisch begründete wahrnehmen.

Ihre objektive Unschuld wird umso deutlicher, da so ziemlich alle anderen Figuren eine übers bloße Dabeigewesensein und Verschweigen hinausgehende Schuld mit sich herumtragen, die mal mehr, mal weniger Bezug zu den Nazi-Verbrechen hat. In diesem nahezu universalen Schuldzusammenhang finden auch die Amerikaner und Russen ihren Platz. Wobei deren Taten nach Ansicht der Autorin offenbar nur der Andeutung bedürfen, um ihren vollen Schrecken zu entfalten.

Eine der Schlüsselszenen der Serie ist folgende: Nachdem die völlig überzeichnete Figur der jüdischen Überlebenden Rachel Cohen (Iris Berben) ihre Zeugenaussage gemacht hat, läuft sie im Wissen, dass Eva ihr gefolgt ist, geradewegs in den Stadtverkehr und lässt sich von einem Auto anfahren. Im Sterben flüstert sie Eva etwas auf Polnisch zu, woraufhin diese ihr auf Deutsch versichert, sie müsse »sich keine Sorgen machen«. Dass man auf eine Übersetzung der Worte Rachel Cohens im Untertitel verzichtet hat, verleiht der Szene vollends ein mystisches Pathos: Die Auschwitz-Überlebende gibt ihr Leben hin, um eine für den Durchschnittszuschauer geheim bleibende Botschaft an die junge Deutsche zu überliefern, deren Figur spätestens ab diesem Zeitpunkt messianische Züge trägt.

Seine Katharsis findet das Eva-Motiv in einer der letzten Szenen, in der sie jenen jüdischen Friseur aufsucht, der ihr in Auschwitz, auch daran kann sie sich rudimentär erinnern, regelmäßig die »hübschen Locken« machte. Ihn fordert sie auf, ihr die Haare zu rasieren, was er aber ablehnt, bevor er sie mit den Worten »Das steht dir nicht zu« bestimmt, aber sanft hinausbittet.

Die keine Schuld trägt, nimmt die kollektive der Deutschen auf sich, und trachtet, stellvertretend gleichsam, nach Erlösung. Dass ein Shoah-Überlebender ihre Sühne förmlich zurückweist, ist letztlich unerheblich, schließlich weiß der Zuschauer, dass Eva sie im Grunde nicht nötig hat – und der Zuschauer selbst mindestens ebenso wenig. Vermöge der erpressten Anteilnahme am Schicksal der Aussöhnungsbotschafterin kann sich die Serie jenes Einverständnisses sicher sein, das den Kern dessen bildet, was hierzulande gemeinhin unter Vergangenheitsbewältigung verstanden wird.

Damit das möglichst reibungslos funktioniert, muss eine Serie catchen, das weiß die »Showrunnerin« Annette Hess, die auch die Romanvorlage verfasste, nur zu gut: »Der Zug muss auch ordentlich Zug haben, damit man einsteigt und gerne mitfährt.« Das zumindest kann man getrost als gelungen bezeichnen, lässt die Serie doch von Beginn an keinerlei Zweifel daran, dass am Ende der Reise ein Ort wartet, der mit dem Deutschland von 1963, geschweige dem von 1943, nichts mehr gemein hat. Oder, um aus dieser ohnehin verunglückten Metaphorik auszusteigen: Die erheischte Immunisierung gegen die historische Schuld durch deren Integration ist die folgerichtige kulturindustrielle Reaktion auf den Umstand, dass Leugnen und Verschweigen sich als Formen der Schuldabwehr weitgehend überlebt haben.

Exemplarisch für dieses elaborierte Vergessen qua Erinnern ist die von der Presse allenthalben als »mutig« bezeichnete Zitation aus den Original-Tondokumenten des Auschwitz-Prozesses, die ihrerseits als bloße Versatzstücke im tröstlichen Ganzen der Rahmenhandlung aufgehen. Am Ende schwebt über allem der Dunst von Evas »Zärtlichkeit«, in dem sich das Grauen der Vergangenheit auflöst und die Deutschen sich mit sich selbst versöhnen.

Simon Duckheim