Musik für Gehörlose

Oder: Was fühlen Männer, die die Neunte hören? Von Ulrich Holbein

Veranstalter/innen senken die Eintrittspreise, halb hoffnungsvoll und halb verzweifelt. Junge Leute dürfen, statt für 20, für fünf Euro rein. Doch selbst in sogenannten Studentenkonzerten können praktisch kaum viel mehr als null Studenten und Studentinnen gesichtet werden, höchstens anderthalb auf zweihundert fuchsbraun gefärbte, silberweiße Oma-Topfdeckel. Einzige Hoffnung: In Japan lassen immerhin 20 Prozent sich Amadeusa Mozaruta gefallen.

Ein Politiker, des Namens Frank-Walter Steinmeier, stellte 2021 eine wunderbare Bagatellfrage, die seine Kernkompetenz im Sektor Haushaltsdebatte lichtjahrweit überragte. Sie lautete nicht etwa: »Wieviel Deutschlandlied braucht ein Staatsbürger?« Sondern: »Wieviel Mozart braucht der Mensch?«

Steinmeier wusste sogar einzelne Werke zu nennen, nicht nur »Eine kleine Nachtmusik«, sogar die »Zauberflöte«, dieses »immer wieder tief bewegende Loblied auf die Liebe«, und das »erschütternde« Requiem, das Schuldfragen aufwirft, und Ensembleszenen in »Figaros Hochzeit«, die genau jenes »menschliche Miteinander« zeigen, auf das auch alle Pfarrer und Päpste pausenlos zu sprechen kommen.

Können wir, als Bürger, solcherlei Kulturverbundenheit unserem Oberhaupt abkaufen? So oder so: Steinmeier, genau wie Tamino, war mehr als Prinz, gab sich als Mensch und sprach über den Menschen. Steinmeier ging sogar ans Eingemachte: »Wieviel Mozart brauche ich?«

Der Bundespräsident wollte damit wohl ausdrücken, dass er als Privatmann – und nicht zuletzt als Mensch – recht viel, wenn nicht gar sehr, sehr viel »Zauberflöte« und »Requiem« brauche – fast so viel wie ich und du und er und sie und wir und ihr und Sie!? Wohl jeder, der Mozarts Kosmos betritt, wird davon tief eingenommen, ließ Steinmeier verlauten. Welch Präferenz, Affinität, Inklination! Verblüffend! Kannten seine Ghostwriter/innen keine Statistik? Nur
fünf Prozent verschmähen Wurst. Nur vier Prozent lassen sich Telemann gefallen. Nur drei Prozent aller Bachfans haben für Bruckner was übrig – fragt sich nur was? Ganz Italien hörte nie Worte wie Gesualdo oder Orlando di Lasso. Jeder Mensch braucht Mozart, weiß es aber nicht und lässt sich statt dessen abspeisen mit humba humba, täterä! Ruckizucki! Ohrwürmer! Rhythmus, wo jeder mit muss! Kuschelrock! 58 Prozent aller Deutschen outeten sich als Heino-Fans, zeitweise.

Gewissensfrage: Brauchen Männer nicht spürbar weniger Mozart als ihre Gattinnen, zum Beispiel Männer der Tat? Männer beißen ja auch doppelt so oft in Steaks wie Softies und morden neunmal so oft Leute wie Frauen. Mädels hören hoffentlich auch weniger Rammstein als Männer. Könnten nicht ganz viele Soldatinnen mal den Wehrdienst verweigern?

Als jedenfalls Merkel, Trump, Putin, Macron und ähnliche simultan in Beethovens Song of Joy hockten, angetackert, 2017 in Berlin, da blieben ihre Gesichter so grenzenlos leer wie der kleine Teller von Schuberts Leiermann. (»Was für’n Schobber!? Der wohnt hier nicht. Lieben Sie Brahms?«)

Erdoğan schwänzte das Konzert. Man sah genau, dass Trumputin & Merkel einfach null mitkriegten, mit unverklärbaren Antlitzen, als a-moll-Legastheniker. Sie saßen nur einen Programmpunkt ab, hockten indolent in einem Einheitsbrei, der vorwärtsdröhnte, sichtlich sinnlos, und dachten dabei noch nicht mal an Wertedebatten. Es ging ihnen wie Leutnant Gustl in der Wiener Oper. Man kriegt, mitten in der Musik, von der Musik nichts mit und wartet einfach nur ab, dass sie endlich mal aufhört. Mit diesem Defizit dürfen, sollen, müssen sie die Welt regieren.

Das wär’ Frank-Walter Steinmeier anders gegangen! Er reißt das Steuer ’rum. Er setzt der Barbarei und Amusie der VIPs ein Sahnehäubchen auf. Tief im Innern fühlt er was – doch was fühlt er? Das wird kaum jemand nachfühlen können. Trotzdem sitzen da immer noch welche beisammen, im ausverkauften Haus.

Wird Mozart je erfahren, dass Steinmeier ihn brauchte, und hoffentlich doch wohl ein jeglicher Steinmeier weltweit!? Wohnt in jedem Pragmatiker wirklich ein Cellist, und wenn ja, wie viele? Einer würde ja genügen, pro Kopf. Wohnt in jedem Dumpfsack ein Künstler, keine völlig dumpfe Künstlerin? Nur – wenn Steinmeier noch mehr Mozart bräuchte, bekäme sein Terminstau Probleme. Würde Steinmeier, wenn er Frau Steinmeier wäre, neun Prozent tiefer fühlen dürfen? Wie kriegt man Mozart hervorgepult aus jedem Schlagerfan, worin er schlummern tut?

Präsident Václav Havel fingerte und arbeitete im »Dies irae, dies illa« an seinem verrutschten Toupé. Falls Gott dies übersah – die Kamera fing es ein. »Quam olim Abrahae promisisti.«

Andererseits, können Staatenlenker nicht wenigstens Streichtrios beiseite lassen im Drang der Amtsgeschäfte? Arbeitsteilung! Fromme Kantaten und Oratorien sollten doch eher schwule Erzbischöfe übernehmen, falls ihr Bemühen, dringend den Blasphemieparagrafen wieder zu restituieren, dann keinen Knüppel zwischen die Beine bekäme.

Auch Papst Ratzeputz hatte seinerzeit mal im Mozart zu hocken, im sicher auch ihn immer wieder tief erschütternden Mozartrequiem, und ahnte sekundenlang nicht, dass die Kamera aus dem besinnlichen Getümmel natürlich ihn – wen sonst? – heraushob, ihn streifte und kurz auf ihm ruhte. Mitten im seligen »Lacrimosa dies illa, qua resurget ex favilla«, kongenial instrumentiert und ab Takt acht vortrefflich weiterkomponiert vom Mozartschüler Franz Xaver Süßmayr, arbeitete Gottes Stellvertreter verzweifelt an seinem übergroßen Goldring, den er nicht abbekam. Der Finger wurde während der Amtszeit wohl zu dick für den Ring. Ein Weltgleichnis versuchte, sich in diese drei Sekunden einzuschleichen und millionenfach vervielfacht draus hervorzuspringen.

Politiker/innen könnte man’s ja fast noch verzeihen, dass sie am Wochenende arg wenig Mozart brauchen. Aber dürfen auch musikferne Christen, genau wie Gott, überirdisch in Unmusikalität untergurgeln? Jesus flötete, harfte und trommelte verdächtig selten, im Gegensatz zu Altsteinzeitlern, die regelmäßig Gänsegeier töteten, um dann auf Knochenflöten zu flöten, vor 36.000 Jahren.

Apropos Steinzeit: Hitler brauchte wenig Mozart, aber arg viel Wagner. Das wär’ aber ein anderes Kapitel.