Kanonen und Kanonenfutter

Solidarität um jeden Preis hieße Kriegsflüchtlinge abschieben. Von Özge Inan

Die Lage für die Ukraine ist mies. Da die erhoffte Wende durch die Sommeroffensive ausblieb und sich die Front weder vor- noch zurückbewegt, leidet die Geschlossenheit wie nie zuvor. Zwischen Generalstabschef Walerij Saluschnyj und Präsident Wolodymyr Selenskyj läuft ein ausgewachsener Grabenkampf auf internationaler Bühne. Saluschnyj erklärte im November gegenüber dem britischen »Economist«, worin sich Analysten hierzulande inzwischen von links bis Springer einig sind: Der Krieg befindet sich in einer Pattsituation. Selenskyj war darüber
Berichten zufolge nicht erfreut. Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko, dessen Imagewirkung für das Land nicht zu unterschätzen ist, gab dem Generalstabschef in einem Interview mit dem schweizerischen Nachrichtenportal »20 Minuten« recht und griff Selenskyj offen an. Man könne »euphorisch unser Volk und unsere Partner anlügen«, aber ewig gehe das nicht. Saluschnyj beschwerte sich Berichten zufolge dann auch noch ganz oben, beim US-amerikanischen Verteidigungsminister Lloyd Austin, über Selenskyjs schlechte Kommunikation.

Während Russland seine enorm hohen Verluste mittlerweile problemlos ausgleichen kann und im Abnutzungskrieg die Oberhand hat, beklagen sich ukrainische Militärs seit Monaten über Mangel an Material und Personal. Das motivierte nun Verteidigungsminister Rustem Umjerow, den Elefanten im Raum anzusprechen. 650.000 wehrfähige Landsleute befinden sich im Ausland, während 450.000 an der Front stehen – und täglich weniger werden. In einem Interview mit mehreren Springermedien sprach Umjerow kurz vor Weihnachten eine »Einladung« an ukrainische Männer zwischen 25 und 60 Jahren im Ausland aus, sich in den Rekrutierungszentren zu melden. Sanktionen für den Fall, dass sie das nicht freiwillig tun, würden derzeit besprochen.

Zwar beeilte sich ein Sprecher des Ministeriums, letzteres zu dementieren und zu betonen, sein Chef habe lediglich auf die Dringlichkeit der Rekrutierungsbemühungen hinweisen wollen. Allerdings liegt es auf der Hand, dass die Ukraine mittelfristig ein Ressourcenproblem hat.

Russland wird im Jahr 2024 ein knappes Drittel des Gesamthaushalts in die Verteidigung stecken, doppelt so viel wie vergangenes Jahr. 2023 soll die enorme Waffenindustrie dem Land ein Wirtschaftswachstum in Höhe von 3,5 Prozent beschert haben. Die Ukraine hingegen muss ohne eigene Rüstungsproduktion ständig um Aufmerksamkeit und Sympathie im Westen werben. Die aktuellen Unstimmigkeiten in der Führung dürften dazu nicht unbedingt beitragen. Zudem schwindet die Hilfsbereitschaft der Vereinigten Staaten. Der Senat blockierte zuletzt ein Rüstungspaket in Höhe von 100 Milliarden Dollar, 55 Milliarden davon sollten in die Ukraine fließen.

Personell ist die Lage noch drastischer. Der unabhängigen »Moscow Times« zufolge rechnen die russischen Behörden mit 400.000 neu rekrutierten Vertragssoldaten im Jahr 2024. Diese sind im Gegensatz zu Freiwilligen zum Einsatz bis Kriegsende verpflichtet. 2023 soll diese Zahl etwa
387.000 betragen haben, zusätzlich zu noch einmal knapp 100.000 Freiwilligen mit begrenzter Dienstzeit. Russland hat pro Jahr also etwa so viele Männer neu rekrutiert, wie die Ukraine insgesamt zur Verfügung hat.

Um dem entgegenzuwirken, zieht die Ukraine jetzt die Schrauben an. Einige neue Maßnahmen zielen explizit auf ins Ausland geflohene Ukrainer. So sollen Einberufungsbescheide künftig rechtswirksam elektronisch zugestellt werden. Wehrfähige Ukrainer im Ausland sollen von den Konsulaten nur noch Papiere bekommen, nachdem sie einen aktuellen Wehrregistereintrag nachgewiesen haben. Doch auch hier funkt der Streit zwischen Generalstabschef Saluschnyj und dem Präsidenten dazwischen. Beide Männer machen sich gegenseitig für die äußerst unpopulären Maßnahmen verantwortlich.

Ob Deutschland einem formellen Gesuch nachkommen müsste, ist nicht eindeutig zu beantworten. Jeder ukrainische Staatsbürger hat nach der EU-Massenzustromrichtlinie ein Aufenthaltsrecht in allen EU-Staaten, ohne Asyl- oder sonstige Verfahren. Dieses Recht müsste den Betroffenen wieder entzogen werden. In Betracht kommt Artikel 28 der Massenzustromrichtlinie, nach der Personen ausgeschlossen werden können, die in einem anderen Staat ein schweres Verbrechen begangen haben. Kriegsdienstverweigerung während der Mobilmachung ist in der Ukraine durchaus strafbar, im Moment mit drei bis fünf Jahren Gefängnis. Das müsste als schweres Verbrechen klassifiziert und der Betroffene dann als Verbrecher ausgewiesen werden.

Zu Kriegsdienstverweigerung als Asylgrund gibt es zwar umfangreiche Rechtsprechung und grundsätzlich gilt, dass er anerkannt wird, wenn der Antragsteller fürchtet, an Kriegsverbrechen teilnehmen zu müssen. Weil sich die Ukraine gemäß Artikel 51 der UN-Charta, dem Selbstverteidigungsrecht, jedoch verteidigt, gilt der Krieg als rechtmäßig und verpflichtend. Und wenn ein Staat dieses Recht hat, so die Logik, muss er auch auf seine Bürger zugreifen können, um es durchzusetzen. Den Ukrainern bliebe noch die Berufung auf Artikel 4 des Grundgesetzes, die Gewissensfreiheit, mit äußerst ungewissem Ausgang.

Macht Deutschland also ernst mit der vollen Ukrainesolidarität und liefert mit den Kanonen auch gleich das Kanonenfutter, können sich die Verwaltungsgerichte auf eine Welle von Einzelverfahren gefasst machen. Für die Russen ist die Lage nicht besser. Weil Putins Armee in der Ukraine höchstwahrscheinlich Kriegsverbrechen begeht, sollten ihre Soldaten bessere Karten im Asylprozess haben – zumindest auf dem Papier. Russen sind nicht durch die Massenzustrom-Richtlinie privilegiert, sondern, wie alle Asylsuchenden, dem Dublin-Verfahren unterworfen. Häufig werden sie also in das Land zurückgeführt, in dem sie erstmals EU-Boden betreten haben. Weil das in der Regel in Osteuropa liegt, wo man gerade nicht gut auf Russen zu sprechen ist, besteht auch hier Abschiebungsgefahr. In Deutschland haben von 3.500 gestellten Anträgen bis September 2023 genau 90 wehrpflichtige Russen Asyl bekommen. 

Özge Inan schrieb in konkret 7/23 über die türkischen Präsidentschaftswahlen