FILM DES MONATS

Evil Does Not Exist

Regie: Ryusuke Hamaguchi; mit Hitoshi Omika, Ryo Nishikawa, Ryuji Kosaka; Japan 2023, 106 Minuten, ab 18. April im Kino 

Die Filme von Ryusuke Hamaguchi machen das Alltägliche mysteriös. In seinem Oscar-prämierten Film »Drive My Car« etwa verschwammen allmählich die Grenzen zwischen dem Leben eines verwitweten Theaterregisseurs und dem Tschechow-Stück, das er inszeniert. In »Das Glücksrad« suchte man unweigerlich nach verborgenen Verbindungen zwischen drei kurzen Episoden, die sich der Macht des Zufalls im Leben ihrer Protagonisten mit mikroskopischer Detailverliebtheit widmeten. Mit »Evil Does Not Exist« aber wagt sich Hamaguchi noch tiefer hinein in diese komplexe Form des poetischen Realismus, der gegen Ende sogar ins Magische übergeht. 

Zugleich ist »Evil Does Not Exist« aber deutlich politischer und konkreter als die beiden genannten Vorgängerfilme. Das Werk erzählt von dem alleinerziehenden Vater Takumi (Hitoshi Omika) und seiner kleinen Tochter Hana (Ryo Nishikawa), die in einem abgeschiedenen Dorf leben. Oft streifen die beiden gemeinsam durch die verschneiten Wälder, lesen Spuren und lauschen den Klängen der Natur. Takumi verdient seinen Lebensunterhalt offenbar mit Holzhacken und dem Abfüllen frischen Quellwassers, das weitaus besser schmeckt als schlichtes Leitungswasser, für ein örtliches Nudelrestaurant. Doch dann wird das ländliche Idyll jäh gestört: Ein Unternehmen aus Tokio hat große Flächen in der Umgebung des Dorfes aufgekauft, um sie in einen glamourösen Campingplatz (kurz: »Glamping«) zu verwandeln.

Die Bürgerversammlung, die das Unternehmen einberuft, um die Bedenken der Anwohner anzuhören, zeigt, dass die Klärgrube des geplanten Standorts höchstwahrscheinlich die Wasserversorgung vergiften wird – und dass den Investoren die Sorgen der Einheimischen ziemlich gleichgültig sind. Die beiden dauerlächelnden Firmenvertreter, die so tun, als nähmen sie die Beschwerden der fassungslosen Dorfbewohner ernst, sind in Wahrheit Angestellte einer TV-Talentagentur, die sich auf Unternehmens-PR verlegt hat. Kaum kehren sie nach Tokio zurück, macht ihnen der großspurige CEO deutlich, dass man auf solche Lappalien leider keine Rücksicht nehmen könne, das Glamping-Projekt müsse verwirklicht werden.

So weit, so berechenbar: diese in präzisen Bildern eingefangene erste Hälfte könnte als bitterer Kommentar zur neoliberalen Geringschätzung von Mensch und Umwelt im Gewand von aalglattem Marketing-Sprech fast auch aus einem Ken-Loach-Film stammen. Trotz der ruhigen Bilder verbirgt sich hinter diesem Auftakt jedoch eine deutliche Wut. Wie bei Hamaguchi üblich, wird dieser Ausflug ins Genre der Farce allerdings von herausragenden, weil gänzlich unprätentiösen Dialogen getragen. Besonders die Bürgerversammlung überzeugt als eine der besten Szenen des Films, versteht es der Regisseur doch genau, die starken Emotionen der Bewohner, besonders Takumis, in Worte zu fassen, ohne melodramatisch zu werden. 

Mit der Rückkehr der beiden Funktionäre zur Unternehmenszentrale aber beginnt der bis dato stringente Plot auszufasern, wenn auch zunächst kaum merklich. Die Angestellten zeigen sich nämlich schuldbewusst über das, was sie tun, insbesondere über den ungeschickten Plan ihrer Arbeitgeber, Takumi einen Hausmeister-Job auf dem Glampingplatz anzubieten und ihn sozusagen einzukaufen. Eine lange Dialogszene während der Autofahrt lässt uns unweigerlich ihre menschliche Seite sehen: zwei an und für sich nette Leute, die in einem Bullshit-Job feststecken. Hier wird auch der Sinn des scheinbar weltfremden Filmtitels deutlich: das vermeintlich »Böse« ist nicht im einzelnen Menschen, sondern in den Strukturen zu finden.

Zunächst wirkt es tatsächlich so, als ob der Regisseur nun eine Versöhnung der beiden Seiten des Konflikts anstrebe. Denn schon in der Versammlungsszene weist Takumi darauf hin, dass er und alle anderen Bewohner einmal selbst Neuankömmlinge waren, genauer gesagt: Teil eines Regierungsplans, der nach dem Krieg in dieser Region die Landwirtschaft ankurbelte, die ihrerseits die Umwelt schädigte. Als die beiden PR-Leute mit dem Angebot der Hausmeisterstelle an ihn herantreten, nimmt Takumi sie freundlich auf, zeigt ihnen die Umgebung und lässt sie sogar beim Holzhacken helfen. All das läuft in Hamaguchis favorisiertem Tempo ab, einer meditativen Langsamkeit, die sich Zeit nimmt, auch kleinste Details wie die von einem Ast rieselnden Schneeflocken einzufangen.

Umso schockierender ist der plötzliche Einbruch wahren Schreckens in diesen geruhsamen Kosmos: Takumis Tochter verschwindet. Von hier an – ohne zuviel zu verraten – geht der Film nahtlos über in ein düsteres Schlusskapitel, das den vorangegangenen Plot gänzlich auf den Kopf stellt. Auch hier sollte man keine eindeutigen narrativen wie inszenatorischen Wendungen erwarten. Hamaguchi bleibt seiner Liebe zur dialektischen Erzählart treu. Wie immer man die Schlussbilder aber auch im Detail für sich deuten mag: Sie scheinen auf eine weitere Ebene hinzuweisen, die den Filmtitel auf gewisse Weise Lügen straft. Das Böse mag nicht existieren – aber irgend etwas ist da, im nächtlichen, verschneiten Wald. 

Tim Lindemann