We, the Pöbel

Anlässlich des Endes der Präsidentschaft Donald Trumps und des Sturms auf das Kapitol durch Neonazis und Wutbürger am 6. Januar 2021 befasste sich Lars Quadfasel in konkret 2/21 mit der Frage, was es mit den vier Jahren trumpistischer Gegenrevolution eigentlich auf sich hatte.

Lange hatte es so ausgesehen, als ginge die mit viel Tamtam gestartete Ära Trump nicht mit einem Knall zu Ende, sondern mit einem Wimmern. Zwei Monate lang hatten der Präsident und seine Handlanger alle möglichen Kniffe erwogen, die verlorene Wahl zu annullieren; aber statt Fahrt aufzunehmen, plätscherte der Staatsstreich so vor sich hin, von einer juristischen Niederlage zur nächsten, gleichermaßen Putschperformance wie Beschäftigungstherapie für einen Präsidenten, der sichtlich die Lust an seinem Job verloren hatte.

Auch das republikanische Establishment weigerte sich beflissen, Joe Biden als gewählten Präsidenten anzuerkennen. Ansonsten aber schien man bemüht, bruchlos an jene gute alte Zeit vor 2016 anzuknüpfen, als man noch Skandale wie Obamas beigen Anzug (»tan suite gate«) zum Echauffieren fand. Senatoren, die vier Jahre lang steif und fest erklärt hatten, was in den Sozialen Medien passiere, bekämen sie gar nicht mit, verkündeten nunmehr ohne alle Ironie, für einige von Bidens Ministerkandidaten nicht stimmen zu können, weil die Nominierten einmal etwas Gemeines auf Twitter geschrieben hätten. In der »National Review« wiederum, dem intellektuellen Aushängeschild des honorigen Konservatismus, fanden sich Anfang Dezember gleich fünf Abhandlungen darüber, warum Joe Bidens Ehefrau Jill ihren Doktortitel, weil sie ihn an einem Community College erworben hatte (vergleichbar in etwa mit einer Pädagogischen Hochschule hierzulande), in Wirklichkeit gar nicht verdiene.

Anfang Januar war es damit vorbei. Erst veröffentlichte die »Washington Post« den Mitschnitt eines Telefonats zwischen Trump und Georgias republikanischem Staatssekretär Brad Raffensperger, in welchem dem für die Durchführung der Wahlen verantwortlichen Raffensperger dringend nahegelegt wurde, die Stimmergebnisse vom November neu zu kalkulieren. Zwei Tage darauf verloren, in ebenjenem Georgia, die Republikaner sensationell beide Stichwahlen zum Senat und damit zugleich ihre Mehrheit im Oberhaus des Kongresses – und das auch noch, wie als späte Reminiszenz an die Koalition der Bürgerrechtsbewegung, gegen einen schwarzen Pastor und einen jungen jüdischen Dokumentarfilmer. Am darauffolgenden Tag schließlich fand im Kongress die zeremonielle Auszählung der Wahlkollegstimmen statt; und während Republikaner drinnen Einspruch gegen das Ergebnis zu organisieren versuchten, nahmen draußen, von Trump befeuert, einige Tausend Neonazis und Wutbürger die Sache selbst in die Hand und stürmten das Kapitol.

Was das alles für die Zukunft bedeutet, lässt sich kaum absehen; Leserinnen dieses Beitrags werden, wenn das Heft erscheint, allemal schlauer sein, als es der Autor beim Abfassen war. Rückschlüsse erlauben die Ereignisse höchstens auf das, was ihnen vorausging: auf die Frage, was es mit den vier Jahren trumpistischer Gegenrevolution eigentlich auf sich hatte. Dazu ein paar Überlegungen.

I. Für eine Partei, die gerade das Weiße Haus verloren hatte, gaben sich die Republikaner nach den Novemberwahlen bemerkenswert selbstzufrieden. Anstatt, wie nach Niederlagen üblich, den Spitzenkandidaten in die Wüste zu schicken, schien Trump fester denn je im Sattel zu sitzen. Natürlich trug das Wahlbetrugsspektakel seinen Teil dazu bei: Warum den Kurs ändern, wenn man doch in Wahrheit einen – in Trumps unnachahmlicher Diktion – »heiligen Erdrutschsieg« eingefahren hatte?

Aber die Auffassung, dass es machtpolitisch gar nicht so schlecht um einen bestellt sei, entbehrte in der Tat nicht einer gewissen Plausibilität. Die raison d’être der Reaktion besteht schließlich nicht im Regieren, sondern darin, dafür zu sorgen, dass es auch kein anderer tut. Das aber kann man, angesichts knappster Kongressmehrheiten, selbst aus der Opposition effektiv bewerkstelligen – erst recht, wenn man immer noch, von den Bundesstaaten bis zum Obersten Gerichtshof, über zahlreiche Machtbastionen verfügt.

Die Republikaner, die bei den letzten acht Präsidentschaftswahlen genau einmal eine Stimmenmehrheit erringen konnten, mögen zwar eine Minderheit sein – aber eine, deren Anhängerschaft geografisch optimal verteilt ist: Der durchschnittliche Bundesstaat etwa stimmt mehr als fünf Prozentpunkte konservativer als die durchschnittliche Wählerin (weswegen selbst Bidens Wahlsieg, der zweithöchste im 21. Jahrhundert, im Wahlkolleg am seidenen Faden hing). Anders als bei allen sonstigen westlichen Volksparteien steht daher das ideologische Brimborium um den »Willen der Mehrheit« bei der Grand Old Party (GOP) nicht eben hoch im Kurs: »Demokratie«, schrieb ihr Senator Mike Lee aus Utah unlängst, sei kein Wert an sich und könne der Freiheit, dem Frieden und der Prosperität durchaus im Wege stehen. Was, ideologiekritisch besehen, nicht einmal falsch wäre, als Gebrauchsanweisung in Sachen Reichtums-erzeugung aber doch eher zur Skrupellosigkeit tendiert.

Aus der Sicht des Parteiestablishments erschien das Trumpsche Wahlbetrugsspiel somit als Win-win. Die Achillesferse der GOP ist schließlich, dass ihr eigentliches politisches Programm – Deregulierung und Steuernachlässe für Superreiche – selbst bei der eigenen Anhängerschaft unpopulär ist; so braucht es ständig irgendwelche Moralpaniken, von knienden Football-Spielern bis zum »War on Thanksgiving«, um die Leute bei der Stange zu halten. Trump selbst brachte es auf den Punkt, als er auf einer Wahlkampfveranstaltung erklärte, dass »wir alle Opfer sind«. Was käme da also gelegener als dunkle Machenschaften in afroamerikanisch dominierten Großstädten – zumal dann, wenn man anschließend auch noch dort, wo man in den Landesparlamenten die Macht hat, den Mehrwert in Form von Gesetzen einstreichen kann, mit welchen unerwünschten Wählergruppen das Wählen weiter erschwert wird?

Dass die Make-America-great-again-Anwälte in ihrer Kampagne eine weltumspannende Verschwörung skizzierten, die auf keinen Geringeren als Hugo Chávez zurückgehe, und General Michael Flynn, Trumps ehemaliger Sicherheitsberater, öffentlich Notstand und Militärtribunale empfahl, machte es den anderen Beteiligten nur um so leichter, das Spiel mitzuspielen. Weil es kaum möglich scheint, dergleichen Aberwitz ernst zu nehmen, konnte von seiten der seriösen Konservativen jeder, der es doch tat und vor den unabsehbaren Folgen der Inszenierung warnte, als Hysteriker abgetan werden. Auffällig jedenfalls, dass, je aussichtsloser ein Manöver sich anließ, desto größer die Bereitschaft war, an ihm mitzuwirken: Einem Eilverfahren vor dem Verfassungsgericht, von dem jeder wusste, dass es selbst für die fanatischen Konservativen dort zu frivol sein würde, schlossen sich in kürzester Zeit nicht weniger als 18 Bundesstaaten an. Dort aber, wo republikanische Amtsträger, wie im Falle Raffensperger, womöglich wirklich etwas hätten drehen können, war man auf einmal merklich zögerlicher – nicht, weil der Appetit fehlte, sondern weil die Risiken so schwer zu kalkulieren waren. Georgia allein hätte schließlich nicht gereicht; wer aber wollte garantieren, dass, wenn einer vorprescht, die anderen tatsächlich mitziehen, statt einfach »Lol« zu sagen, und man am Ende nicht exakt so dumm dasteht, wie es die Sache war.

Dagegen, dass ordentlich Porzellan zerschlagen wird, hat bei den republikanischen Eliten niemand etwas; aber von den eigenen Geschäftsgrundlagen möge man doch bitte die Finger lassen. Sie wissen schließlich ganz genau, dass die antidemokratischen Ziele sich einfacher mit den Mitteln der Demokratie umsetzen lassen als gegen diese; freilich nur dann, wenn sie dabei auch diejenigen mobilisieren können, die lieber die ganze Wählerei verbieten würden, als das Risiko einzugehen, den von Verschwörungstheoretikern des QAnon-Kults halluzinierten blutsaufenden Globalisten die Macht zu überlassen.

Das merkwürdige Schillern zwischen Ernst und Unernst, welches die Trump-Ära kennzeichnete, ist Resultat nicht zuletzt genau dieser Dynamik, und vier lange Jahre hat es leidlich gut funktioniert. Irgendwann aber war doch die Rechnung fällig. Inständig hatte Mitch McConnell, Chef der Republikaner im Senat, seine Kollegen gebeten, nicht gegen die Stimmzählung im Kongress Einspruch zu erheben, um nur ja jedem Fraktionsmitglied die Entscheidung pro oder contra Trump zu ersparen. Aber die Versuchung für Möchtegern-Mussolinis wie Ted Cruz oder Josh Hawley, sich per »Stop the Steal«-Treuebekenntnis als Nachfolgekandidat in Stellung zu bringen, war wohl zu groß – und die Erwartung an der Basis, die wochenlang hatte mitansehen müssen, wie der Tag der Abrechnung von Prozesstermin zu Prozesstermin weiter nach hinten verschoben werden musste, wohl auch.

Nun, wo der Lynchmob sie gezwungen hat, Farbe zu bekennen, und die Absetzbewegung von Trump unter den Eliten, gerade auch unter Mäzenen und Lobbyverbänden, in vollem Gange zu sein scheint, mag mancher schon frohlocken. Aber man freue sich nicht zu früh. Im Repräsentantenhaus, wo die Tuchfühlung zur Basis enger ist, stimmte selbst nach dem Überfall aufs Kapitol noch die Mehrheit der Fraktion gegen die Zertifizierung des Wahlergebnisses, und in Umfragen erklären nach wie vor etwa zwei Drittel der republikanischen Wähler, dass Bidens Sieg illegitim zustande gekommen sei – und knapp die Hälfte hält es für gerechtfertigt, dagegen notfalls mit Gewalt vorzugehen.

Die Lage dürfte sich also weiter verschärfen: Wer jetzt noch zur Bewegung dazustößt, will es wirklich wissen. Die alte Generation gefiel sich in der Vorstellung, die Trottel für die eigenen Zwecke einzuspannen; die neue glaubt den ganzen Scheiß wirklich, bis hin, wie einige der neu gewählten Kongressmitglieder, zum QAnon-Kult. Was immer das ist, wovon Trump das Symptom bildet, es wird auf absehbare Zeit erhalten bleiben.

Was die Republikaner nur wieder vor neue Probleme stellt. So gerne sie sich selbst ins Spiel bringen und in Strong-man-Pose werfen, so klar dürfte inzwischen sein, dass die Hawleys und Cruz’ außer ihrem Ehrgeiz nichts zur Trump-Nachfolge prädestiniert. Viele Linke und Liberale beschwören immer wieder, wie schlimm es erst werde, wenn die Republikaner auf einen kompetenten Autokraten stoßen. Aber gerade Trumps vollkommene Inkompetenz macht ihn für seine Anhänger erst zur Identifikationsfigur: So faul und dumm sein und trotzdem so groß herauskommen! In Trump, der reich genug geerbt hat, um es sich leisten zu können, im Fernsehen einen Kapitalisten zu spielen, überlagern sich die Führerimagos des Fordismus und des Postfordismus, der pompöse Diktator und der psychopathische Wirtschaftsboss; er ist gewissermaßen sui generis. Was nur bedeuten kann, dass als heißester Kandidat auf die Trump-Nachfolge nur ein Name in Frage kommt: Trump.

II. Überraschend am Auftreten des Mobs, der das Kapitol stürmte, war nur eines: dass er so lange hat auf sich warten lassen. Natürlich bot die Präsidentschaft Trumps ihren Anhängern genügend Grausamkeiten zum Goutieren: hier ein paar Tausend Eltern, denen ihre Kinder an der Grenze weggenommen wurden, dort ein martialisches Sonderkommando gegen antirassistische Demonstranten. Aber angesichts des rhetorischen Eskalationsniveaus der Maga-Gemeinde, der überschnappenden Hetze gegen Flüchtlingshorden, brandschatzende Black-Lives-Matter-Aktivisten und betrügerische Stalino-Globalisten hätte man doch erwarten können, dass mehr als nur ein paar versprengte Terroristen bei der blutigen Verfolgungsarbeit selbst mit hätten Hand anlegen wollen. Statt dessen schien es lange so, als bräuchte es wirklich nicht mehr als böse Worte, um die Gefolgschaft bei Laune zu halten: als wäre der Retweet, der die Linksliberalen vor den Kopf stößt, sich selbst schon Lohn genug.

Selbst als der Ernstfall dann doch eintrat, ließ sich ein Moment des Unernsten darin kaum übersehen. Während die einen enthemmt auf Polizisten oder Reporter einprügelten oder sich auf die Suche nach potentiellen Geiseln machten, liefen die anderen staunend wie Touristen durchs erstürmte Kapitol, posierten für Selfies und protzten auf Facebook oder Instagram mit ihren Straftaten. Natürlich spricht daraus das Selbstverständnis des Lumpenbourgeois: Wer als Selbständiger oder Kleinunternehmer aus der Vorortsiedlung in Tennessee zur Maga-Ralley anreist, wähnt sich quasi naturwüchsig auf der richtigen Seite der Macht; erst recht, wenn ihn die Cops, wie dokumentiert, freundlich passieren lassen oder ihm den Weg zu den Senatorenbüros weisen. Und nicht wenige werden wohl wirklich geglaubt haben, dass Trump, wie versprochen, in ihrer Mitte marschieren würde und die lange angekündigten Massenverhaftungen unmittelbar bevorstünden. Aber wenn ein Angestellter mit gut sichtbarem Namensschild zum Riot anreist oder eine Frau sich bitterlich darüber beklagt, dass man Tränengas abbekomme, bloß weil man sich an einer Revolution beteilige, dann geht ein solches Verhalten im Begriff des Privilegs allein nicht auf. Eine gehörige Portion magisches Denken muss dazukommen.

Jeder Ideologie wohnt ein Zug der Verleugnung inne. Aber ob es nur daran liegt, dass die technischen Möglichkeiten der Virtualisierung ausgereifter sind denn je, oder ob es sich wirklich um einen qualitativen Sprung im autoritären Bewusstsein handelt – nie jedenfalls erschien eine Massenbewegung derart abgeschottet gegen jede Form der Realität, selbst die der eigenen Handlungsoptionen. Als die Republikaner vor der Wahl ihre politischen Vorhaben skizzieren wollten, waren die ersten beiden, die ihnen in den Sinn kamen, eine Raumstation auf dem Mond zu errichten und eine bemannte Rakete zum Mars zu schicken: Weltflucht par excellence. Statt sich mit der trägen und störrischen Materie herumzuschlagen, bewegt man sich voll und ganz im virtuellen Raum; einem Raum, in dem sich alles um einen selbst dreht und aller Objektbezug auf eine Handvoll beliebig wiederverwendbarer Bilder, Gesten und Memes zusammenschnurrt. Auf der Kundgebung vorm Kapitol rief Trump-Anwalt Rudy Giuliani, als wäre er in Westeros, zum »Trial by Combat«, Gottesurteil durch Zweikampf, auf, während Chefideologe Stephen Bannon derweil im Radio »heads on pikes«, aufgespießte Köpfe, forderte.

Zur Lieblingsikonografie der Maga-Bewegung gehören Internet-Bildchen, auf denen Filmhelden ein Trump-Antlitz verliehen wird: aufmontiert auf den Körper des Präsidenten aus »Independence Day«, auf John Rambo in Afghanistan oder auch – gut oder böse, Hauptsache, allmächtig – auf den »Avengers«-Schurken Thanos, der mit einem Fingerschnipsen das halbe Weltall vernichten kann. Die offenkundige Albernheit freilich verrät ein tiefsitzendes Bedürfnis. Der heutige Rechtspopulismus bezieht ganz unzweifelhaft einen wesentlichen Teil seiner Energie aus männlicher Fragilität, einer Fragilität, die sich nicht bloß, wie in den Männerhorden der zwanziger und dreißiger Jahre, aus der Angst vor dem weiblichen Körper speist, sondern auch aus den Anforderungen der modernen Maskulinität: Kaum sollen die Kerle nicht nur Stärke zeigen, sondern auch mal ein bisschen Aufmerksamkeit und Kommunikationsvermögen, klappen sie schon vor Überforderung zusammen. Ein Muskelpaket mit Trump-Fratze wirkt da wie Balsam für die Seele, nicht trotz, sondern genau wegen der sich aufdrängenden Dissonanz: Es verspricht, dass es sich auch mit Schmerbauch und Cheeseburger-Diät zum umjubelten Star werden lässt, dass einer sich nach Herzenslust bräunen und tönen darf, ohne daran gemessen zu werden, ob er dadurch auch attraktiver rüberkommt, dass einer nicht stoisch und still wie Cary Grant daherkommen muss, um als tough guy zu gelten, sondern ruhig in einer Tour jammern kann.

Für die faschistischen Männerhorden der Freikorps und SA prägte Klaus Theweleit einst den schlagenden Begriff des »Körperpanzers«: die Abdichtung des Leibes gegen alles, was Lust und Begehren wecken könnte. Im späten Spätkapitalismus freilich braucht niemand mehr die Strapazen des Soldatseins auf sich zu nehmen, um sich gegen jede Erfahrung dessen, was man selbst nicht ist, abzuschließen. Wer ins Tablet oder Smartphone eintaucht, um den legen sich die virtuellen Welten wie ein undurchdringlicher Kokon. Kein Wunder, dass die Kapitolstürmer sich im Livestream unverwundbar fühlten. Kein Wunder auch, dass die Sperrung von Twitter-Accounts als existentieller Angriff erfahren wurde: als »digitaler Gulag«, wie ein konservativer Aktivist es ausdrückte, und als, in den Worten eines zweiten, »neue Kristallnacht«.

III. Solange die merkwürdige Unverbundenheit zwischen hetzerischer Rhetorik und vergleichsweise konventioneller konservativer Regierungspraxis anhielt, solange hatten diejenigen leichtes Spiel, die sich gegen die Verwendung des Begriffs »Faschismus« verwahrten. Nach dem blutigen Versuch, die Amtsübernahme einer gewählten Regierung zu verhindern, ist das schon nicht mehr ganz so einfach. Für die Regierung Trump mag gelten, dass sie nie wirklich faschistisch, sondern stets bloß im herkömmlichen bürgerlichen Sinne menschenverachtend war; mit der Trump-Bewegung, der Maga-Meute, geht zumindest ein Hauch Mussolini einher.

Das heißt nicht, dass Differenzen sich einfach einebnen ließen. Eine der wesentlichen besteht in der Haltung zur Sozialpolitik: kein historischer Faschismus ohne einen zumindest rudimentären Herrenvolk-Wohlfahrtsstaat. Dem Rezept, auch die unten ein bisschen an der Beute zu beteiligen, folgen heute noch die populäreren unter den derzeit herrschenden Autokraten, von Orbán bis Duterte. Trump hingegen, der im Wahlkampf 2016 ein paar vage Andeutungen in diese Richtung gemacht hatte, setzte, einmal im Amt, praktisch wie propagandistisch ganz auf die gute alte Trickle-down-Politik. Womöglich war das eine Fehlkalkulation. Ein Grund für das überraschend gute Abschneiden der Republikaner bei den Wahlen, so wird vermutet, bestand darin, dass trotz Corona-bedingtem Wirtschaftseinbruch das durchschnittliche Einkommen der US-Bürger nicht etwa gesunken, sondern vielmehr, dank des gigantischen Hilfspakets vom Frühjahr, leicht gestiegen war. Noch ein Scheck mehr, und wer weiß, wie es dann gekommen wäre.

Womöglich aber befindet sich Trump einfach nur auf der Höhe der Zeit, und es sind die Orbáns und Dutertes, die ein hoffnungsloser Anachronismus sind. Die historische Mission des Faschismus war die mit Zuckerbrot und Peitsche vollzogene Integration der Arbeiterklasse: Externalisierung der inneren Widersprüche auf einen äußeren Feind. Heute aber gibt es nichts mehr zu integrieren, schon gar nicht eine ganze, einstmals exterritoriale Klasse. Zu organisieren bleibt allein der Zerfall, das permanente Jeder-für-sich-und-alle-gegen-alle. Kein Zufall, dass Trump sich rhetorisch an Expansion gänzlich desinteressiert zeigt und vom Rest der Welt vor allem eins will: dass er draußen bleibt. Kein Zufall auch, dass die Heldenfigur des Maga-Mythos nicht der Soldat ist, der außerhalb der Landesgrenzen kämpft, sondern – »Blue Lives Matter!« – der Polizist, der auf den heimischen Straßen das Gesocks in die Schranken weist. Kein Zufall schließlich, dass das historische Ereignis, auf das sich die Trump-Fans geradezu manisch kaprizieren, der Bürgerkrieg ist. Im Zentrum der Maga-Ideologie steht nicht der äußere, sondern der innere Feind: die Küsten- und Städtebewohner, die sich was Besseres dünken. Kein Präsident vor Trump war so offen Präsident nur derjenigen Bundesstaaten, die ihn auch gewählt hatten; der Rest, von Kalifornien bis Puerto Rico, konnte im Katastrophenfall sehen, wo er bleibt.

Womöglich ist auch das noch nicht die ganze Erklärung. Denkbar, dass die Fixierung auf den inneren Feind, überhaupt die ganze virtuelle Raserei, nicht zuletzt eines ist: Ausdruck der eigenen Schwäche, des Unvermögens, so zu können, wie man wollte. Zu jeder autoritären Bewegung gehört wesentlich die Überrumpelungstaktik: Ihre Trumpfkarte ist nie die Macht ihrer Anhänger, sondern die Ohnmacht ihrer Gegner. Als aber die Trump-Regierung, kaum drei Tage im Amt, ihr autoritärstes Versprechen, das Einreiseverbot für Muslime, in die Tat umsetzen wollte, stieß sie – von seiten der Gerichte, der Journalisten, selbst der Fluggäste vor Ort – auf unerwartet massiven Widerstand. Und wer weiß, vielleicht war das damals schon der Anfang vom Ende.

Würde das stimmen, wäre es eine gute Nachricht und eine schlechte. Eine gute, weil es hieße, dass die Führungsmacht der westlichen Welt, die Verkörperung von »life, liberty and pursuit of happiness«, der autoritären Versuchung widerstehen konnte: mit Müh und Not und einigen Schrammen vielleicht, am Ende aber erfolgreich. Und eine schlechte, weil alle wissen, dass, was in Amerika einmal en vogue war, fünf oder zehn Jahre später unweigerlich hierzulande ankommen wird; und da sollte man, was das Widerstandspotential angeht, aus historischer Erfahrung allemal pessimistisch sein.