Zum Tod von Erwin Riess

»Wer im Rollstuhl sitzt, schaut der Wirklichkeit unter den Rock«, meinte der große österreichische Schriftsteller, Behinderten-Aktivist und Rollstuhlfahrer Erwin Riess, der am 25. März gestorben ist. Die Position ist eine Zumutung, aber aus ihr heraus lässt sich wenigstens schreiben, was wahr ist. Davon zeugt schon eine kurze Erzählung, die 2010 in literatur konkret erschien. Aus „Groll gegen die digitale Welt“ erfährt man mehr über Karl Kraus, die Weltliteratur und die Folgen der Digitalisierung als aus jeder mehrbändigen wissenschaftlichen Abhandlung.

 

 

 

Erwin Riess

Groll gegen die digitale Welt

Wer Karl Kraus zum Sprachkritiker verkleinert, vernichtet Werk und Person des Revolutionärs. Eine Geschichte vom Wiener Donaukanal

Groll erwartete seinen Freund, den Dozenten, am Donaukanal. Ungeduldig fuhr er vor der Baustelle der Schiffahrtsstation auf und ab. Der Dozent hatte am Telefon gesagt, er müsse Groll neue Erkenntnisse über Karl Kraus mitteilen. Die Sache dulde keinen Aufschub und dürfe nur an einem öffentlichen Platz mit starkem Verkehrslärm stattfinden. Also hatte Groll, den Geschäfte an den unteren Donaukanal geführt hatten, Geschäfte, die nur gedeihen, wenn keine Öffentlichkeit und ringsum Stille herrscht, die Baustelle der neuen Schiffahrtsstation als Treffpunkt vorgeschlagen. Binnen Stundenfrist erwarte er den Dozenten am verabredeten Ort. Und tatsächlich tauchte schon nach einer halben Stunde, von der Nebenfahrbahn des Rings kommend, ein Radfahrer auf. Aufgeregt winkte der Dozent seinem Bekannten zu. Als die Ampel Rot zeigte, fuhr er mit seiner weißen Rennmaschine durch den Stau über die vierspurige Straße zum Donaukanal. Mit einem Satz war er auf dem Gehsteig, schlüpfte noch im Fahren aus den Fußschlaufen, bremste scharf ab und sprang vom Rad. »Schön, dass Sie es einrichten konnten, geschätzter Groll!« stieß er hervor.

»Verehrter Dozent, nirgendwo wird Kraus so missverstanden und verharmlost wie in Wien«, erwiderte Groll und schüttelte die dargereichte Hand. »Der bedeutendste Autor der Moderne gilt in dieser Stadt nach wie vor als monomanischer Sprachkritiker, der wegen eines falsch gesetzten Kommas die Letzten Tage der Menschheit ausruft, als selbstgerechter Moralist die Welt Mores lehrt und dem zu Hitler nichts einfällt, obwohl sein Werk die Antithese zu sprachlicher Korinthenkackerei, sexuellem Heuchlertum und der braunen Horde darstellt. Wenn neue Erkenntnisse die Wahrheit über Kraus endlich auch in dieser Stadt ans Licht bringen, darf es kein Zögern geben. Kommen wir zur Sache!«

»In der Tat!« rief der Dozent und lief mit Groll an der Baustelle der neuen Schiffsstation entlang. Obgleich er das Rad schob und noch außer Atem war, redete er ohne Unterlass auf Groll ein: »Wie Sie wissen, werde ich an dem Symposion ›Karl Kraus im Spannungsfeld zwischen Sprachkritik und Kritikersprache‹ teilnehmen. Ich wurde mit einem Impulsreferat betraut, das Kraus’ Haltung zu Minderheiten betrifft. Da Ihnen als Angehöriger einer Minderheit auf diesem Gebiet Expertenstatus zukommt …«

Er sei sich nicht bewusst, Angehöriger einer Minderheit zu sein, unterbrach Groll. In Floridsdorf gebe es derartige Leute nicht. 

Er habe sich unklar ausgedrückt, meinte der Dozent; der rezente Minderheitenbegriff habe mit dem alten, der zu Kraus’ Zeiten gebräuchlich war, nichts gemein. Der Begriff sei ja erst nach dem Ersten Weltkrieg entstanden und habe auch da nur ethnische Minderheiten umfasst: kleine Völker Mittel- und Osteuropas, die unter der Wahnvorstellung litten, bei der Staatenbildung zu kurz gekommen zu sein. Der rezente Minderheitenbegriff umfasse demgegenüber auch Angehörige unterschiedlicher sexueller Orientierung, Flüchtlinge, Migranten und deren Nachkommen sowie Menschen mit unterschiedlichen körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderungen, wobei Mischformen eher die Regel als die Ausnahme seien. Grolls Interesse galt einem Twin City Liner, einem Schnellboot, das am Landeplatz lag.

»Wie steht es denn heute um die Minderheiten jenseits der Donau?« fragte der Dozent. Ohne aufzusehen, antwortete Groll: »Ich sagte bereits, in Floridsdorf sind Minderheiten unbekannt.« Angehörige der transdanubischen Nation seien per definitionem ungebildet, ungleich und unreich und gehörten daher der einzigen Bevölkerungsgruppe an, die sich auf der Höhe der Zeit bewege, sie zählten zur größten gesellschaftlichen Gruppe, jener der armen Schlucker.

Er wisse um die Herkunft des Begriffs »arme Schlucker«, meinte der Dozent. Ein Baumeister habe um 1780 die Ausschreibung zur Errichtung einer Mauer um den kaiserlichen Tiergarten mit dem billigsten Angebot gewonnen, sei aber an den Kosten, die der Bau schließlich verursachte, wirtschaftlich zugrunde gegangen. »Da er mit Namen Schlucker hieß, war es zum ›armen Schlucker‹ nicht weit. Es ist immerhin bemerkenswert, dass ein Bankrotteur der größten Bevölkerungsgruppe ihren Namen gibt. Karl Kraus hat sich sein Lebtag für die ärmsten der armen Schlucker eingesetzt, und das nie vom Standpunkt einer Caritas oder einer allgemeinen Menschenliebe. Ein bisschen Licht ins Dunkel zu bringen hat er als üble journalistische Drohung, als Verfestigung der herrschenden Verhältnisse, stets leidenschaftlich verurteilt. Seine Sache war es, das Gespinst der Dunkelheit ein für allemal zu zerreißen.«

 

Sie waren nun am Abgang zum Ufer des Donaukanals angekommen, einer steilen Rampe, die beide gut bewältigten. Am Ufer angekommen, fuhr der Dozent fort, während er in seinem Notizblock blätterte: »Wussten Sie, dass Kraus schon in der ersten Nummer der ›Fackel‹, die seit 1899 erscheint, in Fragen der Politik die sogenannten Wilden gegen die Wiener verteidigt? Eine ›Fackel‹ aus dem Jahr 1913 berichtet von einem dunkelhäutigen Wiener, der zuerst von einem Fiakerkutscher, dann von einem Lastkutscher und schließlich von einer ganzen Meute von Wienern verprügelt wird, und das nur aus dem Grund, weil der erste Kutscher sich von dem Schwarzen nicht gebührend gegrüßt wähnte. Oder in der ›Fackel‹ Nummer 668 von 1924, in der von einem Kaufmann erzählt wird, der nach Westafrika geht und sich schon darauf freut, die Neger abzuknallen wie Hunde. Dass man mit den Negern in Westafrika wie mit einem Stück Vieh verfahren könne, sei angesichts der verweichlichten Verhältnisse in Deutschland der Hauptgrund für seinen Gang in die Emigration.«

»Der Mann hätte keine zehn Jahre zu warten brauchen, um seine Neigungen auch an Rhein und Spree ausleben zu können«, erwiderte Groll.

Zwei Arbeiter trugen eine Kiste Bier von der unteren zur oberen Ebene der Baustelle. Einer der Arbeiter nickte anerkennend, als er das Rad des Dozenten sah. In der Folge entspann sich zwischen Groll und seinem Bekannten ein Disput um den Donaukanal. Groll begründete den Abscheu vor diesem Namen damit, dass der heutige Donaukanal, der ehemalige Hauptarm des Stroms, der Tausende Jahre genutzt worden sei, durch den Zusatz »Kanal« diskriminiert werde. Es wäre besser, den älteren Bruder des Stroms Prinz-Eugen-Arm zu nennen. Immerhin habe der Prinz im Gebiet des heutigen Tabors eine von holländischen Schiffsbauern betriebene Werft zur Erbauung von Flusskaravellen errichten lassen.

»Der halbe Wienerwald ging damals für die Schiffe drauf, und es war die Kriegsflotte, die ebenfalls von niederländischen Matrosen gestellt wurde, welche Eugen den Sieg von Belgrad im Jahr 1717 eintrug, jenen Sieg, der die militärische Macht der Türken in Mitteleuropa für immer brach und Österreichs Aufstieg zur Großmacht besiegelte. Die Donaumonarchie nahm von der Donauflotille ihren Ausgang.«

Der Dozent las aus seinem Notizblock vor: »Im Jahr 1909 zitiert Kraus einen Arzt: ›Ich weiß nicht, gnädige Frau, ob Sie sich besinnen können, dass wir Männer einen gewissen körperlichen Widerwillen gegen Gelähmte haben!‹ und wünscht dem Manne, ›dass ein gefühlvoller Polizeihund ihn zerbeiße‹. In der ›Fackel‹ 686 aus dem Jahr 1925 bringt Kraus eine kleine Zeitungsmeldung. ›Ein Dieb hat am 3. des Monats dem Straßenmusikanten Johann Weininger, Meiselstraße wohnhaft, in der Branntweinschenke, Alserstraße Nr. 7, die Fußprothese, einen Lederfuß im Werte von 300 Schilling, gestohlen. Den Krüppel trifft der Diebstahl ungemein schmerzlich, der ohne die Prothese ganz hilflos ist. Den Diebstahl begangen zu haben, ist ein Invalide verdächtig.‹ Aber es kommt noch besser: In der Dritten Walpurgisnacht erledigt Kraus neben Benn und Heidegger auch Oswald Spengler. Und für Furtwängler und Richard Strauß hat er nur Spott übrig; bei beiden sei nicht ausgemacht, dass es ans Dirigieren gehe, wenn sie den rechten Arm heben. Hören Sie folgendes, von Kraus gebrachtes Spengler-Zitat: Es sei großartig, dass der Mensch über die Fähigkeit verfüge, sich auf den Schwächeren zu stürzen. Spengler feiert die Bestärkung der Seele, die ›den Rausch des Gefühls kennt, wenn das Messer in den feindlichen Leib schneidet, wenn Blutgeruch und Stöhnen zu den triumphierenden Sinnen dringen‹, und schließt mit der Versicherung, dass jeder deutsche Mann ›in den Städten später Kulturen‹ zuweilen die ›schlafende Glut dieses Urseelentums‹ in sich fühle.«

Der Dozent stutzte, klopfte das Gerät zweimal sachte an die Reling und fuhr fort: »Hier! Originalton Kraus: ›Da ist etwa der Denker Heidegger, der seinen blauen Dunst dem braunen gleichgeschaltet hat und erkennt, die geistige Welt eines Volkes sei ‘die Macht der tiefsten Bewahrung seiner erd- und bluthaften Kräfte als Macht der innersten Erregung und weiteren Erschütterung seines Daseins’‹. Wissen Sie, wie Kraus darauf antwortet?«

Groll schüttelte den Kopf.

»›Ich habe immer schon gewusst, dass ein böhmischer Schuster dem Sinn des Lebens näherkommt als ein neudeutscher Denker.‹ Ist das nicht ein treffliches Beispiel für den begnadeten Sprachkritiker Kraus!«

Die beiden setzten sich Richtung Urania in Bewegung.

»Unsinn«, sagte Groll scharf. »Kraus hat an der Sprache nichts auszusetzen gehabt. Er hat mit ihr gearbeitet; er hat sie restauriert, wo sie beschädigt war; er hat sie weiterentwickelt, wo die Wirklichkeit es verlangte; er hat sie verteidigt, wenn sie durch den Dreck gezogen wurde. Verehrter Herr Dozent! Kraus war alles, nur kein Sprachkritiker.«

»Wie darf ich das verstehen?« Der Dozent blieb stehen. Groll bremste den Rollstuhl ein und verschränkte die Arme.

»Kraus kritisierte jene, die sich sprachlich an der Menschheit vergreifen. Er wusste, dass die Ideologien das Feld sind, auf dem die Menschen sich der gesellschaftlichen Konflikte bewusst werden. Er wusste, dass es nicht darum gehen kann, keine Ideologien zu haben – wer das sagt, hat sich für die abgesunkenen Ideologiereste entschieden, das Meinungsgesülze, das Mutmaßen und Appellieren, wo es um konkretes Denken und zielgerichtetes Handeln geht. Kraus kämpfte nicht gegen Ideologien im allgemeinen, er erledigte die Trommler der Phrase und die Schönredner, die mit erhobenen Fäusten und verlogenen Parolen vor den Mördern zurückweichen, und zitiert Nestroys Schneider Zwirn: ›Schuster, wenn i anfang, wann i anfang. I fang aber net an.‹ Kraus wollte nicht keine, sondern Ideologien auf der Höhe der Zeit.«

»Sie meinen also, dass Kraus ein Revolutionär war, seine Leser und Anhänger so weit aber nicht gehen wollten?«

»Verehrter Herr Dozent, Sie haben es erfasst. Der Floridsdorfer Ältestenrat, dem anzugehören ich die Ehre habe, hat Kraus im Ständigen Ausschuss zur Klärung aller Welträtsel, der beim Heurigen Binder direkt am Kachelofen eingerichtet ist, nun seit drei Jahrzehnten studiert, und noch nie stießen wir auch nur auf den Schatten eines Irrtums. Die immer wieder angeführten Gemeinplätze vom angeblichen Dollfußschen Irrtum, von Kraus’ Einschätzung des Zionismus oder sein Verhältnis zu Frauen – wo man genau hinschaut, trifft man auf analytisches Denken, schneidenden Witz, tollkühne Interventionen sowie phantasievolle und zärtliche Liebe. Der einzige Irrtum seines Lebens, den er später auch bitter in seinen Texten bereute, war sein zeitweiliges Vertrauen in die Sozialdemokratie als rettende oder zumindest das Schlimmste verhindernde Kraft.«

»Es scheint, dass ich die Arbeit der Kritik verkannt habe«, sagte der Dozent. »Im Gegensatz zum Sprachkritiker ist der Gesellschaftskritiker kein Nörgler und Besserwisser, er hat für derlei Mumpitz keine Zeit, er arbeitet ja an der Wirklichkeit«, fuhr Groll fort. »Von einem Kritiker der Gesellschaft zu verlangen, er solle gefälligst vorzeigen, wie es besser ginge, bedeutet, jegliche Opposition totzuschlagen. Es ist ein Versuch der Vernichtung von Werk und Person, wenn man einen Gesellschaftskritiker zum Sprachkritiker verkleinert. Es hat schon einen Grund, warum Sprachschützer und Kämpfer für die Reinheit der Sprache sich als notorische Reaktionäre erweisen. In einer arbeitsteilig organisierten Gesellschaft ist auch die Arbeit der Kritik eine hochspezialisierte Disziplin – wie die Kunst im übrigen. Kunst ist Kritik, oder sie ist keine Kunst. Eine Stellungnahme ist noch keine Klarstellung. Nicht um wirkliche Möglichkeiten geht es, sondern um die mögliche Wirklichkeit. Darin liegt, wie Musil sagt, der soziale Sprengstoff. Wer sich andere Wirklichkeiten vorstellen kann, der kann auch versuchen, die eine oder andere Variante wirklich werden zu lassen.«

»Mit einem Wort: Eine systemübergreifende Herangehensweise«, sagte der Dozent.

»Eine revolutionäre«, präzisierte Groll.

»Sie meinen also, dass die Kritik am Journalismus Beleg dafür ist, in Kraus einen Revolutionär zu sehen?« – »Unter anderem.« – »Woran erkennt man einen Revolutionär?« – »An seinem Einsatz für die Schwachen. Sie haben bereits Beispiele gebracht.« – »Viele Beispiele, da haben Sie recht. In all den Fakten kann man aber mehrfach untergehen. Darf ich etwas Ketzerisches sagen?«

Ohne eine Antwort Grolls abzuwarten, fuhr der Dozent fort: »Wissen Sie, was ich mich manchmal frage?« – »Sie werden es nicht verschweigen können.« – »Nach dem Wust an politischen, judiziellen und ästhetischen Querelen, die alle zeitbezogen sind und von Menschen berichten, die keiner mehr kennt, frage ich Sie: Ist Kraus nicht rettungslos antiquiert?«

»So antiquiert wie Swift, Sterne, Balzac, Gogol, die alle aus ihrer Zeit heraus leben und eine Fülle zeitbezogener Details ausbreiten«, erwiderte Groll. »Der Roman Martin Chuzzlewit von Charles Dickens erzählt mehr über die ursprüngliche Akkumulation in den USA als hundert Geschichtsbücher und ist Weltliteratur, dasselbe gilt für Flauberts Bouvard und Pecuchet, Diderots Jacques der Fatalist und sein Herr und Emile Zolas großen Romanzyklus über die französische Bourgeoisie, ja selbst beim Don Quijote werden Sie neben dem erzählenden Hauptstrom mit Hunderten lokalen Geschichten beschenkt. All diese Werke zählen zur Weltliteratur, nicht trotz, sondern weil sie von ihrer Zeit erzählen. Das Verbrechen hat Name und Anschrift, sagt Brecht, folglich muss die Literatur Adressen lesen, Orte und Produktionsverhältnisse beschreiben können. Nein, verehrter Dozent, schon aus dem oben genannten Grund, der literarischen, politischen und künstlerischen Zeitzeugenschaft, ist Karl Kraus Teil der Weltliteratur.

Wenn dereinst Menschen über das Zentrum des Katastrophen- und Kriegskontinents im ersten Teil des 20. Jahrhunderts Bescheid wissen wollen, werden sie zu Kraus und nicht zu langatmigen historischen Abrissen greifen. Es gibt aber noch zwei weitere Gründe, warum Kraus unter die Revolutionäre eingereiht werden muss, einen, der mit Struktur und Form seines Werks zu tun hat, und einen technologischen. Der strukturelle Grund ist im übrigen eng mit dem ersten, der Welthaltigkeit, verbunden. Er besteht, kurz gesagt, darin, dass man die 37 Jahrgänge, 415 Hefte, 922 Nummern und 22.760 Seiten der ›Fackel‹ als einen zusammenhängenden Roman lesen muss. Jedes Heft wurde ja durchkomponiert, jeder Text bearbeitet und korrigiert, jedes Satzzeichen und jede Überschrift überprüft. Wenn Sie bedenken, dass die ›Fackel‹ im ersten Jahrzehnt nahezu alle zehn Tage erschien, und das in hohen Auflagen, können Sie das Arbeitspensum von Kraus ermessen. Bis 1911 schrieben auch noch andere Mitarbeiter in der ›Fackel‹, dann, mit wenigen Ausnahmen, nur er selbst.«

»Sie meinen, die ›Fackel‹ muss als großes Epos, als zusammenhängender Großroman gelesen werden? Ein Krieg und Frieden oder ein Stiller Don …« – »… oder ein Mann ohne Eigenschaften«, ergänzte Groll.

»Mal zehn«, vollendete der Dozent den Satz. »Das ist dann der Weltroman der Moderne schlechthin.«

Groll nickte. »Nun, wahrscheinlich wird er das auch sein. Der Gedanke ist nicht von mir, sondern von Michael Scharang, der als einer von ganz wenigen für sich in Anspruch nehmen kann, Kraus’ Werk eigenständig weiterzuführen. Die ersten beiden Gründe dafür, dass Kraus eine revolutionäre Gestalt der Weltliteratur ist, haben wir genannt, sie sind eine Selbstverständlichkeit. Der dritte Grund …« – »… der technologische!« rief der Dozent. »Ist der wichtigste. Und das nicht nur nach Meinung des großen Floridsdorfer Alltagsphilosophen Wenzel Schebesta, seines Zeichens unbestechlicher Platzwart des FC Wien Nord, der mich in Fragen von Politik und Literatur seit Jahren instruiert. Es ist auch meine feste Überzeugung, dass Kraus erst dann verstanden wird, wenn man die technologischen Umwälzungen der letzten Jahrzehnte in Betracht zieht, und bekanntlich soll man einen Gedanken nicht deswegen geringschätzen, nur weil man selbst ihn hat.«

 

Nun sei er aber gespannt, sagte der Dozent und holte sein Notizbuch hervor. Er bitte um technologische Aufklärung. »Sie soll Ihnen zuteil werden«, erwiderte Groll und öffnete seine Lederjacke, denn die Sonne war hinter den Hochhäusern auf der gegenüberliegenden Seite des Donaukanals hervorgekommen. »Wie Sie wissen, leben wir im Zeitalter der Digitalisierung, in dem Informationshäppchen um die Welt gejagt werden, um, in neue Häppchen geschnürt, nochmals die Welt zu umrunden. Erst die digitale Technologie ermöglicht die Darstellung der Milliardenorder in Echtzeit. Ein Klick, und Sie sind um Millionen leichter. Die digitale Welt macht sich von sich selbst nicht eines, sondern Millionen von Bildern, und das im Wissen, dass jedes einzelne dieser Bilder in seinem Wahrheitsgehalt disponibel ist. Wussten Sie, dass neunzig Prozent der Animationsfilme aus Nordkorea stammen, nach westlichen Drehbüchern und auf westlichen Maschinen von billigen Arbeitskräften verfertigt werden? Neben Raketen sind die Filmchen das einzige Exportgut dieses Regimes, und tatsächlich explodieren die Bildergranaten auch in den Köpfen der Betrachter der animierten Bilder. Im günstigsten Fall legen sie die Gedanken lahm, im schlechtesten Fall löschen sie das Potential für ein Leben in und mit Widersprüchen, Witz und Phantasie für immer aus.«

»Einspruch! Es gibt auch kluge Animationsfilme! Zum Beispiel ›Die Simpsons‹! Und es soll sogar einen ernsthaften Comic über Auschwitz geben.«

»Ein ernsthafter Comic ist ebenso wahrscheinlich wie ein während einer Überschwemmung ausgetrocknetes Flussbett. Und zu den ›Simpsons‹ ist zu sagen, dass hier eine simple Welt mit simplen Geschichten errichtet wird, bei den ›Simpsons‹ bleiben alle Ausbrüche anarchisch, kindisch und folgenlos – und das in einem Land, in dem man schon für öffentliches Biertrinken festgenommen wird. Sie rebellieren in den eigenen vier Wänden und laufen als gesellschaftliche Wesen den herrschenden Verhältnissen nach. Die Simpsons sind die Sozialdemokraten der digitalen Welt.«

»Mag sein. Aber was hat das mit Kraus zu tun?« – »Alles. Lassen Sie uns die Bilderstrecke weiterdenken. Die Hauptleidtragenden der Bilderflut sind die sogenannten Computerkids. Man redet ihnen ein, dass sie dadurch, dass sie sich denselben hirnverbrennenden Computerspielen aussetzen wie Milliarden andere Kinder auch, einen individuellen Startvorteil im Berufsleben erwerben. In Wahrheit sind die Computerkids der Gegenwart das digitale Lumpenproletariat der Zukunft. Schon auf dem Weg vom PC zum Psychotherapeuten ist ihr Wissen veraltet. Nur Flachsinnige – dies übrigens ein Ausdruck von Kraus, der sich nicht über schwachsinnige und geistig behinderte Menschen lustig machen mag – , nur flachsinnige Menschen, die ihr Leben vor Flachbildschirmen zubringen, ertrinken in der Bilderflut. Sie werden nicht für ein Leben mit dieser Technologie trainiert, sie werden für ein Leben in ihr konditioniert. Das ist ein Unterschied – so groß wie der zwischen Gleit- und Prallhang. Das Lügen in Bildern wurde allgemein, als die Digitalisten die Welt mit gefakten Bildern zuschütteten und täglich neue No-go-Areas für den Verstand errichteten, so dass die angeblich globalisierte Welt in Wahrheit längst in digitale Stadtstaaten und Bandengebiete zerfallen ist, in denen keine Gesetze das Sagen, sondern wildgewordene Bilder das Schauen haben.«

Der Dozent öffnete sein Jersey. »Jetzt bin ich aber neugierig, wie Sie die Bilderflut der digitalen Welt mit Kraus in Zusammenhang bringen.« »Der Zusammenhang liegt auf der Hand«, sagte Groll. »Der Satz: Ein Bild sagt mehr als tausend Worte, war immer falsch. Aber in einer Bilderwelt gilt: Ein Satz sagt mehr als tausend Bilder. In einem Satz steckt mehr Aussage über die Wirklichkeit als in einer Million daumennagelgleicher Bildchen, denn so werden die Bilderserien in der Computersprache ja genannt: thumbnails, Daumennägel. Die Welt ist auf die Größe eines Daumennagels geschrumpft, und selbst dieses Bild ist noch eine digitale Lüge. Hingegen können ein Wort, ein Satz, ein Absatz nicht lügen. Hitler hat nicht gelogen, das ist ja das von Kraus erkannte Entsetzliche. Hitler hat nicht gelogen, und das nicht, weil er nicht lügen wollte, sondern weil er, der sich weiß Gott ein Leben lang drum bemühte, dazu nicht in der Lage war. Er eroberte die halbe Welt, aber von der Sprache nicht einmal ein Fuzerl, er ermordete ganze Völkerschaften, aber es gelang ihm nicht, die Sprache zur Lüge zu erniedrigen. Das ist der wahre Grund, warum Hitler sich einer verschrobenen Kunstsprache befleißigte und ein immer falsches Pathos strapazierte. In seinen Auftritten kämpfte er wie ein Berserker gegen sie, aber immer unterlag er der Sprache. Sie war ihm nicht zu Willen.«

Der Dozent öffnete den Reißverschluss seines Jerseys weiter. Es war warm geworden am Donaukanal. »Wer lesen konnte, brauchte bei Hitler keine drei Sätze und wusste, was kommen wird«, fuhr Groll fort. »Der Zusammenhang ist allgemein, er gilt auch für harmlose, gegenwärtige Repräsentanten des öffentlichen Lebens. Sie lügen nicht. Kraus wusste, warum. Weil das Medium der Mitteilung ihnen eine Art Wahrheitszwang auferlegt. So wie Bilder im digitalen Zeitalter zwanghaft lügen, sagen Menschen des öffentlichen Lebens zwanghaft die Wahrheit, und das besonders deutlich, wenn sie lügen. Die Frage ist nur, ob die Menschen bereit sind, die Wahrheit zu hören.«

Er habe am Vortag zur Dritten Walpurgisnacht gegriffen, sagte der Dozent, »jenem großen Essay von Kraus, der über dreihundert Seiten umfasst, die den Naziterror so erschreckend präzise und tiefgreifend vorführen.

Mit der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 30. Jänner brachen die letzten Dämme, schon im März richtete die SA erste Konzentrationslager ein, und nach dem Reichstagsbrand Ende Februar errang die NSDAP, die fünf Jahre zuvor noch bei zwei Prozent dümpelte, bei den Wahlen am 5. März 44 Prozent der Stimmen. Am 1. Mai wurden die Gewerkschaftshäuser gestürmt, am Tag darauf die Gewerkschaften verboten, am 10. Mai folgte die erste Bücherverbrennung, schon vorher machte das Ermächtigungsgesetz der parlamentarischen Demokratie den Garaus. Die Nazis haben ihre Chance prompt genutzt; und Karl Kraus, der mehrere Dutzend Zeitungen verfolgte, kam mit dem Aufarbeiten der Greueltaten nicht nach. Kraus dokumentiert, was bereits in den ersten Wochen nach Hitlers Machtübernahme geschah: ›In Breslau müssen Gefangene mit den Zähnen Gras rupfen, jüdische Vorgesetzte müssen sich von Untergebenen anspucken lassen, Häftlinge werden in einen Schweinestall getrieben, werden gezwungen, mit den Tieren einen Händedruck zu wechseln und sie mit ›Genossen‹ anzusprechen, andere werden gehalten, mit gebrochenen Rippen alpenländische Lieder zu röcheln, zweihundert am Kopf Verprügelte treten vor einer hohen SA-Charge an und singen ›Wo hab ich denn die schönen blauen Augen her? Von der SA. Sie gibt noch mehr‹, der NSDAP-Ernährungsminister empfiehlt, ›Kampfuntüchtige in Sümpfen zu ersticken‹.‹ ›Das also sind die, die die anderen sterilisieren wollen‹, sagt Kraus.

›Ein österreichischer Schiffsheizer‹«, fuhr der Dozent zitierend fort, »›muss in Hamburg jeden Morgen den Unratkübel einer riesigen Zelle leeren, daraufhin zwingt man ihn, gemeinsam mit einem jüdischen Kaufmann vorzutreten, beiden wurde vorher ein Streichholz zwischen Zeige- und Mittelfinger der linken Hand gesteckt, worauf sie den Hitler-Gruß vollführen und durch eine halbe Stunde hindurch rufen mussten ›Ich will ein Deutscher werden‹ und ›Ich bin ein stinkiger Jude‹, wobei jedes Nachlassen mit Schlägen bedacht wird.‹

Die Anwälte Joachim und Strauß werden zu Tode gefoltert, ebenso wie der sozialdemokratische Ministerpräsident von Mecklenburg, Stelling, und der halbblinde Paul von Essen, Schlosser und Gewerkschaftssekretär, der im Lauf der ›Köpenicker Blutwoche‹ im Juni 1933 gefoltert, ermordet und in den Fluss Dahme geworfen wird. In Nürnberg wird ein Mädchen, das mit einem Juden gesehen wurde, zur SA bestellt, kahlgeschoren, von sechs SA-Männern durch die Lokale geführt und vom Publikum angespuckt. Die ›Times‹ vom 13. August 1933 meldet noch, es sei ihr eine Tafel um den Hals gehängt worden, an der die abgeschnittenen Zöpfe befestigt waren und worauf zu lesen stand: Ich habe mich einem Juden angeboten. Der Sohn und die Tochter des amerikanischen Gesandten wurden Zeuge dieser Szene, ›Europa hat es gehört, noch nie ist Ähnliches in einem Angsttraum erlebt worden‹, so Kraus. Einige Tage später wird gemeldet, das Mädchen sei wahnsinnig geworden. Häftlinge in den Folterkerkern versuchen, den Verhören zu entrinnen, indem sie sich Bleistifte in die Augen stoßen oder sich den Kopf am Eisenbett der Zelle einschlagen. Der Deutsche Blindenverband schließt seine jüdischen Mitglieder aus. In Pirmasens läuft ein Kind weinend der Mutter nach, die als Geisel durch die Gassen der Stadt geschleift wird, damit der geflohene Vater zu seinen Mördern zurückkehre.«

»So wagt die Welt den Blick in ein Inferno«, sagte der Dozent und fuhr fort, Kraus zu zitieren, »›wo Erdulden jeglicher Art, Schmerz und Blut, die grässliche Lust der Schinder erhitzt, die von Breughel und Hieronymus Bosch gruppiert sind, aus dem Mittelalter ausgebrochen, um dort Versäumtes nachzuholen‹. Am Ende der Dritten Walpurgisnacht, die mit dem Satz ›Mir fällt zu Hitler nichts ein‹ beginnt, ruft Kraus den Menschen zu:

›Vor Augen, müde des Mords, vor Ohren, müde des Betrugs, vor allen Sinnen, die nicht mehr wollen und denen die Mixtur aus Blut und Lüge widersteht, taumeln und gellen noch diese täglichen Kommandos vorüber einer Pestgewalt … Vermögenseinziehung, Aberkennung der Staatsbürgerschaft, Verhinderung der Neubildung politischer Parteien, Zulassung von Spielbanken, Ausschaltung von Wirtschaftskommissaren … Zwangsbeitritt zur Arbeitsfront, Eingliederung der Studenten in den … Arbeitsdienst, Anmeldepflicht für mit Erbkrankheit Behaftete, Verhaftung von Verwandten Entflohener, Anordnung zur Erhebung des rechten Armes, Erschießung auf der Flucht. Wie lange noch? …

Nicht so lange, als das Gedenken aller währen wird, die das Unbeschreibliche, das hier getan war, gelitten haben; jedes zertretenen Herzens, jedes zerbrochenen Willens, jeder geschändeten Ehre, aller Minuten geraubten Glücks der Schöpfung und jedes gekrümmten Haares auf dem Haupte aller, die nichts verschuldet haben, als geboren zu sein! Und nur so lange, bis die guten Geister einer Menschenwelt aufleben zur Tat der Vergeltung.‹«

»Und einem Mann, der diesen Aufruf zur Revolution verfasst, sagt man nach, er sei Sprachkritiker gewesen!« rief Groll.

 

Der Text basiert auf einer Lesung, initiiert durch Kurt Neumann vom Literarischen Quartier, Alte Schmiede, am 18. Jänner im Rahmen der Veranstaltungsreihe »Wien – Kampf um die Stadt«.

Foto: C.Stadler/Bwag