Der Letzte macht die Lichterkette aus

 »Es ist – politisch, ästhetisch (und von mir aus: moralisch) – nun einmal nicht ganz wurscht, mit wem man in einer Reihe steht. ... Insgesamt wird der Lichterkettengänger feststellen, daß er Teil einer gigantischen Volksbewegung, -gemeinschaft und -genossenschaft ist, die angeblich ausschließlich höchst integre Ziele verfolgt; seltsam ist nur, daß die Zahl der Übergriffe auf Ausländer trotz aller gutvölkischen Mobilmachung nicht sinkt«, schrieb Wiglaf Droste in konkret 3/93 anlässlich der Lichterketten, mit denen nach dem Mordanschlag in Mölln vom November 1992 gegen die deutschlandweit grassierende rechtsextreme Gewalt mobilisiert wurde.

Eine Rückblende anlässlich der Frage, die sich jeder Antifaschist heute auf den Grossdemos gegen die AfD stellen muss: Demonstrieren mit Merz gegen rechts - geht das?

»Wahr ist«, schreibt Giovanni di Lorenzo im »Spiegel« vom 8. Februar, »daß die Lichterkette gerade Ausländern und Juden, nicht nur in unserer Initiative, wieder Mut gemacht hat, in Deutschland zu leben.« Abgesehen mal von der Frage, ob den zitierten »Ausländern und Juden« damit ein besonders guter Dienst erwiesen wurde, ist der Satz pure Selbstgefälligkeit – di Lorenzo gehört schließlich zu den Leuten, die die Lichterkette von München ausgeheckt haben. (Und demnächst rezensiert im selben Blatt André Heller sein jüngstes Bühnengewürge – wäre doch auch schön.)  
Aber nicht nur der Talkshowbubi di Lorenzo erhielt Gelegenheit, sich selbst öffentlich Spitzennoten für gutes Betragen auszustellen. Im »Neuen Deutschland« vom 30. Januar pries der Berliner Kabarettist Martin Buchholz die von ihm u. ä. Kunstgewerblern (Volker Ludwig, Reinhard Mey usw.) angezettelte sog. »Lichterspur« auf Seite eins an. Buchholz, dessen kopfmäßige Beschaffenheit aus dem Titel seines jüngsten Programms – »Dumpfland Dumpfland ... Ein viel zu aktuelles Pro- und Antigramm« gut ersichtlich ist, rhabarberte von »Erhellung der germanischen Hirnfinsternis« und stilisierte seine weizsäckerkompatible Moral-statt-Verstand-Veranstaltung zum verschärften »Protest«.  
Und warum auch nicht? In Zeiten, wo alles mit allem verquarkt wird und die Insgesamtdiotie des Daseins in bislang so noch nicht gekanntem Ausmaße vor sich hinbrummt, da kann ein Kabarettist, ein Mitglied jener Berufsgruppe, die für ein Gutteil der öffentlich abgesonderten Flachpfeiferei und desgleichen für Gesinnungsabgreifertum, semi-humanoides Fortschritts- und Menschheitsgedusel u.ä. Pein und Qual und Ohrenzwang verantwortlich ist, nicht zurückstehen. Und hätte man es ausschließlich mit Figuren wie di Lorenzo, Buchholz, Weizsäcker und den ihnen assoziierten Starksängern W. Niedecken, M. Müller-Westernhagen, P. Maffay usw. sowie noch den Unterschriftgebern bei PR-Aktionen á la »Ich bin ein Ausländer« bzw. etwas später »Mein Freund ist Ausländer« - wie nun bitte? – zu schaffen, mit jener halbseidenen Bagage also, die die sog. »Prominenz« und die sog. »politische Klasse« stellt, man könnte achselzuckend seiner Wege gehen und die Jungs ihrem onanistischen Unfug überlassen.  
Kann man natürlich auch so. Für alle aber, die außer ihren Ohren und Augen noch weitere gute Gründe brauchen, um dem aus Friedenscamp und Mahnwache zwingend hervorgegangenen Tugut-Aktionismus von Lichterkette, -spur und -meer fernzubleiben, hier – wenn man nicht alles selber macht – eine kleine Liste möglicher Einwände (ohne Anspruch auf Vollständigkeit):  
Schuhverkäufer (Schuhtick), Herrenausstatter (de Kalb), Werbehengste (Schirner), Buchhändler usw. schalten seit Monaten anstelle ihrer üblichen Geschäftsanzeigen vage, wachsweiche Appelle gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit; die Botschaft der Gesinnungsimpresarios lautet: Hey Leute – kauft beim guten Deutschen!  
Wer in Deutschland aus dem einzigen Grund, kein Deutscher zu sein, totgeschlagen, verbrannt o.ä. ums Leben gebracht, also das Opfer eines Mordes wird, gilt den hiesigen Landsleuten nicht in erster Linie als solches; nicht von Mord – der entsprechend zu ahnden wäre – ist die Rede, sondern von einem Anschlag auf das deutsche Volk und sein Image im Ausland. So viel Kaltschnäuzigkeit muß man erst mal haben. Lichterketten, deren einziger Zweck die Politur des Deutschland-Bildes im Ausland ist, erfüllen eben nicht nur ihren angeblichen antirassistischen Zweck nicht, sondern bewirken das Gegenteil. Auch kritische Patrioten sind in erster Linie Patrioten. Die Lichterkette gibt auch jenen, die das Grüßen mit erhobener Rechter abstößt, Gelegenheit zum Anschluß ans bzw. Einstieg ins Vaterland; man ist dagegen gewesen und hat doch mitgemacht, man trat auf der Stelle und lief doch mit: In den 70ern hätte man so etwas »die Dialektik des kritischen Opportunismus unter besonderer Berücksichtigung der lange schmerzhaft unterdrückten Vaterländerei« genannt. Oder jedenfalls doch so ähnlich.  
Es ist – politisch, ästhetisch (und von mir aus: moralisch) – nun einmal nicht ganz wurscht, mit wem man in einer Reihe steht. Bei einer Lichterkette z. B. mit den bereits o.g. Sängern Niedecken, Westernhagen, Lindenberg, Maffay, die für eine Anzeige des Bundesinnenministeriums mit der Parole »Helfen statt Hauen« zur Verfügung standen, mithin also die für das den Namen nicht mehr verdienende Asylrecht Verantwortlichen stützten, kritisch natürlich; z. B. mit Edzard Reuter u.a. exponierten Vertretern der deutschen Industrie, die in großen Anzeigen die Logik des Konzentrationslagers als Humanismus verhökern; Ausländer, die gute Arbeit geleistet haben oder leisten, dürfen bleiben, evtl. sogar am Leben; z. B. mit Karl Moik, dem Fleischsack vom Musikantenstadel, der demnächst Asylantenstadel heißen könnte, mit Verlosung eines abschiebesicheren Zellenplatzes und dem neuen Hit der Wildecker Herzbuben: »Kerzilein, oh oh oh Kerzilein, du darfst nicht traurig sein, es war doch nur der Wein, ich schlug ein paar Schädel ein ...«; auch Moik plädiert ja via TV-Spot für »friedliches Nebeneinander« o.ä. nichtssagenden, nichts verhindernden Krempel. Insgesamt wird der Lichterkettengänger feststellen, daß er Teil einer gigantischen Volksbewegung, -gemeinschaft und -genossenschaft ist, die angeblich ausschließlich höchst integre Ziele verfolgt; seltsam ist nur, daß die Zahl der Übergriffe auf Ausländer trotz aller gutvölkischen Mobilmachung nicht sinkt.  
Das Wort vom »häßlichen Deutschen« kann man bitte streichen. Die Avon-Beraterin richtet gegen Nazis nichts aus.  
Auch das Zentralorgan der flotten Faschisten, die »Junge Freiheit«, singt in seiner Februarausgabe ein Loblied auf die Lichterkette. In Magdeburg fand am 16. Januar ein illuminierter Aufmarsch statt zum 48. Jahrestag des »Terrorangriffs anglo-amerikanischer Luftstreitkräfte«. 50 000 Friedensfreunde wollten sicherstellen, »nie wieder« vom Faschismus befreit werden zu müssen. So leicht kann das gehen bei einer derart rundumkompatiblen, beliebig für jedes Ziel verwend- und verwertbaren Form wie der Lichterkette.  
Reichlich wird gewütet gegen den staatlich sanktionierten Antifaschismus der DDR. Und so erstarrt, ritualisiert, phrasenhaft und pathetisch dieser als »verordnet« denunzierte Antifaschismus partiell auch war, so war er vor allem anderen jedoch eins: eine Lebensversicherung für die im Land lebenden Ausländer und Juden, die sich jetzt mit dem nichtverordneten Antifaschismus des Herrn di Lorenzo bescheiden müssen, der zwar irre phantasievoll, aber auch irre wirkungslos ist; es könnte sich erweisen, daß die angepriesene »Ermutigung« via Lichterkette den einen oder anderen Ermutigten das Leben kostet.  
Bürgerfrauen und -männer, die ihrem Staatsoberhaupt (wichtig: Mann mit Vergangenheit) nahe sein wollten, taten das in den 80er Jahren, indem sie mit Karl Carstens singend durch den deutschen Wald eierten. Heute sind die fortschrittlicheren VolksgenossInnen (hier stimmt das I) mit Richard von Weizsäcker in Sachen Lichterkette unterwegs und denken sich buchstäblich nichts dabei; Carstens NS-Wanderer waren vergleichsweise erträglich, weil sie nicht ständig von sich reden machten, was für tollklasse spitzenhumanistisch gesonnene Eins A Top-Mitmenschen sie doch seien.  
Wer sich mit der Selbstverständlichkeit, daß er das Anzünden und Totschlagen von fremden Menschen scheußlich findet, im Völlegefühl des eigenen notorischen Gutseins auf die Straße stellt, muß jedes Gespür für Peinlichkeit verloren haben. »Ich bremse auch für Ausländer!« rufen und stolz drauf sein, geht einfach nicht.  
Wem all das nicht reicht, der sei mit Reinhard Mey gestraft: Was ich noch zu sagen hätte / dauert eine Lichterkette / und ein letztes Faß im Stehn.
 
Wiglaf Droste ist Motorradpfarrer und lebt in Berlin